Dass es eine besondere Ausgabe ist, signalisiert schon das erste Durchblättern: Keine 100 Seiten (Normalumfang) umfasst die Nr. 2/2020, sondern nur 92. Wenn ich mich nicht verzählt habe, ist es beim üblichen Umfang des Anzeigenteils geblieben. Aber der redaktionelle Part ist ein wenig geschrumpft. Offenbar will die Redaktion vorsorglich auf den erwarteten Rückgang der Einnahmen Rücksicht nehmen. Der Terminteil, auf den sie so stolz ist, dürfte sich zum guten Teil als Makulatur erweisen.
Wie in Buenos Aires lautet das wichtigste Wort auch in der deutschen Tangogemeinde: “Cancelado – abgesagt!” Deshalb verweist die Redaktion in ihrem Editorial auf die Online-Version. Viel mehr Rücksicht auf die Aktualität kann eine Viertel-Jahres-Zeitschrift nicht nehmen. Die Einführung wird stets zuletzt in Heft gehoben. Aber auch diesem Text ist das Alter anzumerken. Das Ausmaß der Katastrophe war noch nicht abzusehen, als es geschrieben wurde. Die Frage, warum das Virus die Menschen mehr besorgt als die Klimakrise, wird heute auch nicht mehr ernsthaft gestellt. Die katastrophale Realität hat sie beantwortet.
Die Welt des Tango ist gerade voller Spendenaufrufe. Ich will keinen hinzufügen. Ich werbe an dieser Stelle dafür, die einzige deutsche Tango-Zeitschrift zu unterstützen. Ich habe immer wieder einiges an ihr zu kritisieren. Ich finde nicht alle Artikel interessant. Aber ich finde in jeder Ausgabe so viel, dass ich mich vier Mal im Jahr auf das neue Heft freue (nicht bloß, weil ich selbst ab und an drin zu lesen bin). Das Jahresabonnement kostet 38 Euro (Einzelheft 9,50 Euro). Zu bestellen ist es bei office@tangodanza.de
Aber zurück zum Heft. Und zum Tango. Wie meistens, wenn ich durch eine Ausgabe führe, haben meine Lieblingsartikel mit Musik zu tun:
– Ein Bericht über die Gruppe “Sonico” und Eduardo Rovira, den großen (leider) unbekannten Avantgardisten des Tango.
– Ein Artikel über die junge Tango-Avantgarde in Buenos Aires.
– Arndt Büssings Erinnerung: 15 Jahre “Emigrante (elecrotango)” von Tanghetto
– Die Vorstellung des neoklassischen Orchetsers “San Souci”.
Gern nutze ich meinen wie immer höchst subjektiven Streifzug für einige musikalische Kostproben, wie sie eine gedruckte Zeitschrift eben nicht bieten kann.
ROVIRA/SONICO: Ich bin auf Eduardo Rovira und diese Gruppe durch die FB-Aktivitäten ihres Bassisten Ariel Eberstein gestoßen. https://www.facebook.com/ariel.eberstein. Ich höre sie, aber auch die Originale des Meisters auf Youtube immer wieder gern. Am Schluss des Artikels wird auf ein Projekt verwiesen, das zeigt: Die fünf (manchmal auch vier) verstehen sich nicht nur als Kuratoren der Avantgarde von gestern, sondern machen auch bei aktuellen Neuigkeiten mit. Die französische Premiere der Show “The Heart is the Muscle We Like to Work Out” ist allerdings wie so vieles Corona zum Opfer gefallen. Wer noch mehr über Rovira erfahren möchte, sollte hier auf Todotango nachschlagen. https://www.todotango.com/english/artists/biography/836/Eduardo-Rovira/
Für die Musiker ist Rovira “Der wichtigste unberühmte Komponist der Welt”. So heißt auch der Artikel.
Eine Einschränkung muss ich allerdings beim Lob dieses informativen Textes machen. Eduardo Rovira, der so wenig mit Tangotanzen zu tun haben wollte, hat nämlich einen Hit geschrieben, der auch Tänzern bekannt ist (oder bekannt sein sollte): “A Evaristo” Carriego” – ein Klassiker aus dem Repertoire des “reifen” Osvaldo Pugliese, wie Michael Lavocah sich ausdrückt. Carlos Gavito und Marcella Duran haben diese Musik in der Show “Forever Tango” beispielhaft interpretiert. Der Tanz stellt eine “Signature Performance” ihres Schaffens dar (siehe: Lavocah, Osvaldo Pugliese, S. 184). Warum der TD-Artikel darauf nicht wenigstens kurz eingeht, ist mir ein Rätsel – zumal diese Ausgabe einen Artikel über die Tournee einer neuen Version der Show enthält.
TANGO NUEVO IN BUENOS AIRES: Ja, es gibt sie: Eine neue Tango-Szene in Buenos Aires – mit neuer Musik. Nichts gegen die international bekannten Cover-Bands wie “Orchesta Romantica Milonguera.” Den meisten Milongas in Deutschland, mindestens hier in Berlin, täte es schon gut, wenn das ein oder andere Mal ihre Versionen der goldenen Klassiker aufgelegt würden. Der Berliner Tanzlehrer und Veranstalter Rafael Busch https://www.facebook.com/rafael.busch hat in seiner monatlichen Milonga vor einiger Zeit einmal das Experiment gewagt, gegen Ende hin nur Stücke von ihnen zu spielen. Es war eine Bombenstimmung auf der vollen Pista.
Aber hier geht es um mehr: Nicht nur Tango von gestern heutig gespielt, sondern wirklich zeitgenössischen Tango. Unter der Marke “Tango del Siglo XXI – Tango des 21. Jahrhunderts” haben sich Musiker zusammengetan. Auf Spotify gibt es eine ziemlich aktuelle Playlist https://open.spotify.com/playlist/5Bc1w5pLdm24rkZ8BeNTxg?si=L_E6dnceR5a0mlvfrdQ-_w
Ein Zentrum dieser Bewegung ist der “Club Athletico Fernandez Fierro” (CAFF) – zugleich Stammquartier des gleichnamigen Orchesters. Treffend hat seinen Stil einmal jemand beschrieben: Pugliese auf Speed. Bei meiner Stippvisite in Buenos Aires vor einiger Zeit hab ich auch eine interessant duftende Rauchwolke registriert, die vom Pult der Techniker aufstieg. Das Video stammt von meinem Besuch. Ehe Corona über die Welt hereinbrach, war geplant, im CAFF in diesem Jahr zum vierten Mal ein Festival des neuen Tango abzuhalten. Man versprach sich große Aufmerksamkeit, weil es während der Tangoweltmeisterschaft stattfinden sollte. Schaun wir mal…
Die TD zitiert zum Thema den Komponisten und Pianisten Julian Peralta, Gründungsmitglied von “Fernendez Fierro”, heute in anderen Gruppen aktiv: “Heute haben wir weniger ausschweifende Melodien, der Rhythmus wird stärker betont und die Texte sind mehr gesellschaftlich orientiert.” TD-Autor Geert Böttger fügt hinzu, “dass Ausdrucksstärke und Kraft” diesen “Tango nuevo” von heute “stärker beherrschen als Schmelz und Schönheit”. Peralta schätzt, dass es gegenwärtig rund 1000 aktive Tangomusiker in Buenos Aires gibt und noch einmal 500 in anderen Teilen Argentiniens. Zu den bekannteren Gruppen gehört das “Sexteto Fantasma” – hier mit E-Gitarre und Trompete.
Die neue Bewegung betreibt sogar eine Schule mit angeschlossenem Orchester. https://www.facebook.com/OrquestaEscuelaTangoNuevo/
Die Lehrer gehen aber auch an die öffentlichen Schulen, um für den Tango insgesamt zu werben, denn er habe “bei den Schülern von heute kaum bedeutung”, klagt Javier Yokoo. “Wir wollen lebendigen Tango fördern. Er ist nicht nur eine Sache der Alten”. Auch eine Zeitschrift propagiert die neue Musik https://www.tintaroja-tango.com.ar
EMIGRANTE/TANGHETTO: Arndt Büssing ist Theologe und Spezialist für modernen Tango. Seine Artikel erscheinen auf Deutsch in der “Tangodanza”. Auf Englisch bespricht er Neuerscheinungen seinem eignen Blog http://tangoreviews.blogspot.com. In diesem Heft erinnert er an einen der Meilensteine in der Geschichte des Elektrotango – das Album “Emigrante” von “Tanghetto”. Zusammen “Gotan Project”, “Otros Aires” und “Narcotango” bildete die Gruppe die “Big Four” dieses Genres. Der Pianist und Programmierer Max Masri sowie Gitarrist Diego S. Velázquez scharten immer wieder Gastmusiker für ihre Projekte um sich.
Gleich ihr Erstling brachte es zu einer Nominierung für den “Grammy”. Dabei gab es auch unter den Beteiligten Skepsis. Pure Geldverschwendung, schimpfte der Bandoneonist laut Arndt Büssing. Es wurde das Gegenteil Eine Zeit lang wenigstens. Max Masri eirnnert sich: “Emigrante war wohl die beste Idee, die ich bisher gehabt habe.” Damals tanzten auch die großen Maestros des Tango Nuevo zu dieser Musik. Ich hab sie mal auf einem Tangoball in Potsdam erlebt. Stücke von Carlos Di Sarli im Arrangement von Max Masri – großartig. Heute sieht der Musiker eine “Wiedergeburt” des Electrotango, der aber “mehr eine Art Underground” sei. Die aktuell interessanteste Gruppe ist für mich das Duo “Calavera Acid Tango” https://www.facebook.com/calaveraacidtango/
Zu diesem Untergrund der zählt der “Freestyle Tango”, eine akrobatisch/theatralische Tanz-Richtung, die von sehr jungen TänzerInnen getanzt wird. Die bekannteste Gruppe ist ein Trio aus zwei Männern und einer Frau: Mario Rizzo, Mauro Caiazza y Carolina Giannini. Programmatisch nennen sie sich “Freestyle Tango”. Ich hab sie in Buenos Aires in einem kleinen Studenten-Club gemeinsam mit Carlos Libedinsky erlebt. Ihre “Heimat” aber ist der Club “La Cathedral”.
SANS SOUCI: (Fast) zum Schluss dieses großen Musik-Paketes noch kurz ein Blick auf das “Orchesta Tipica Sans Souci”. Vor etwas mehr als zehn Jahren gegründet, fühlt es sich dem Stil von Miguel Calo verpflichtet. Wie lautet der Untertitel des Artikels: “Ein Traum für alle Tangotanzenden” – jetzt ist wieder Schmelz dran.
Auch mein letztes Häppchen aus der TD hat mit Musik zu tun. Und wieder vermisse ich etwas. Zwar finde ich die Vorstellung der Tango-Comedy von Annette Postel verdienstvoll. In jenen Zeiten, auf die wir alle hoffen, wird ihre Show sicher wieder auf der einen oder anderen Bühne zu sehen sein. Wenn die Krise überstanden ist, werden wir unseren Humor erst recht brauchen.
Nicht verstehen kann ich allerdings, warum die TD einen Artikel über diese Künstlerin veröffentlicht, ohne den Sturm zu erwähnen, den ein Text von ihr in der Zeitschrift im Wasserglas unserer Szene ausgelöst hat. Darin beschwerte sie sich über die “Tango-Taliban”, die nach ihrer Wahrnehmung dafür sorgten, dass in den Milongas keine Musik aus der Zeit diesseits der “Epoca d’Oro” gespielt wird. So lange ich das Geschehen verfolge, hat kein Artikel in dieser Zeitschrift mehr Aufsehen erregt als dieser. Ich hab dazu aus aktuellerem Anlass etwas geschrieben. http://kroestango.de/aktuelles/von-tango-taliban-mancherlei-primaten-und-eine-antwort-von-elio-astor/
Für alle, die wissen wollen, was sonst noch im Heft steht, habe ich einen Link zum Inhaltsverzeichnis beigefügt. https://www.tangodanza.de/product_info.php
Wie immer handelt es sich um ein buntes Paket.