Sieben Jahre ist es nun her. Aber die Erinnerung springt mich sofort an, als der Shuttle-Bus an einem sonnigen Nachmittag auf das Flughafen-Gebäude in Berlin-Tempelhof zu steuert. Damals war’s dunkel. Doch die Rückseite des riesigen Klotzes war in gleißendes Scheinwerferlicht gehüllt. Vom Eingang trennte uns noch ein gehöriges Stück Vorfeld, als der Taxifahrer begeistert aufs Gaspedal trat. Vorfahrt mit Aplomb. So ein Vergnügen hatte er selten. Ob die Reifen quietschten? Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls haben wir den schwungvollen Bogen nicht weniger genossen als er. Besser konnte ein Ball nicht beginnen. Es sollte der schönste unseres Lebens werden – der Bundespresseball 2014.
Wann wir Abendkleid und Smoking das nächste Mal aus dem Schrank nehmen dürfen, ist ungewiss. Damit es ein wenig wahrscheinlicher wird, bin ich diesmal in Tempelhof gewesen. Und meine Frau ein paar Tage später. Einer der Hangars, unweit der damals zum Ballsaal umfunktionierten Abflughalle, beherbergt heute eins der großem Impfzentren der Stadt. Mehrtausendfach pro Tag werden hier AstraZeneca und andere Vakzine gegen das Covid-19-Virus verabreicht. So lange die Pandemie uns beherrscht, wird es keine Bälle mehr geben. Weder hier, noch anderswo.
Wie so oft auf derlei Veranstaltungen zählten die Meinige und ich vor sieben Jahren zu einer Minderheit unter den rund 2000 Teilnehmern – nicht nur, weil wir uns ekelfrei und reichlich am Austern-Buffett delektierten, das auf einem ehemaligen Förderband fürs Flug-Gepäck installiert war. Wichtiger noch: Wir wollten vor allem Tanzen. Flanieren und Parlieren können wir auch anderswo. Nach Freestyle-Geschüttel stand uns nicht der Sinn, sondern nach schönem gepflegten Paartanz: Walzer, Rumba, Quick-Step. Oder Slowfox – wenn die Tanzfläche denn hinreichend Platz bietet. Leider ist das nur selten der Fall.
Menschen, die Wert auf das legen, was Freunde des traditionellen Tango eine ordentliche “Ronda” nennen, haben hier Seltenheitswert. Dennoch taten unsere Tango-Kenntnisse gute Dienste. Wir brauchen keine festen Schrittmuster, können auf der Stelle pivotieren und wir bewegen uns, wenn’s Not tut, mit den Mini-Schritten der Milonguero-Opas von Buenos Aires durchs Gewühl. Das macht mehr Spaß als links-rechts Stehwalzer oder der Klammerblues unserer Jugendtage. Aber noch schöner ist es, Raum greifend über die Piste zu pesen. Womit wir wieder auf dem Bundespresseball 2014 in Tempelhof wären.
In den frühen Morgenstunden des neuen Tages erlebten wir Tanzlust par excellence. Außer dem XXL-Parkett war das der Musik zu verdanken. Es spielte Andrej Hermlins Swingdance Orchestra. Unsere Lieblingsband. Unsere Lieblingstänze aus dem Ballroom-Repertoire: Quickstep, Boogie-Woogie, Swing und Slowfox. Fehlte nur die Rumba. Damals waren diese wunderbaren Tänze in meinem Körpergedächtnis noch nicht unter dem übermächtigen Tango verschüttet. Einmal zu “Sing sing sing” im Stile Benny Goodmans Quick-Stepp tanzen – da braucht’s mindestens eine komplette Milonga-Tanda der schnelleren Art, um den Puls in vergleichbare Höhen zu treiben.
Wenn ich mich recht entsinne, waren wir die letzten auf der Tanzfläche. Sylvia hatte die Schuhe ausgezogen. Ein paar der anderen Morgenschwärmer schauten uns bewundernd zu und bemerkten nun statt der ballüblichen Lackschuhe schwarzweißen Tangotreter an meinen Füßen. Irgendwann konnten auch wir nicht mehr. Als die Musiker eingepackt hatten, standen wir mit dem Sänger an einer Theke und plauderten. David Rose, einer Roma-Familie entstammend, hat eine Stimme, samtweich wie die des jungen Frank Sinatra. Er brauchte noch Zeit, um das Adrenalin aus dem Auftritt abzubauen. Und den Frust über die ein oder andere Eigenart seines Bandleaders.
Inzwischen hat die Pandemie auch die einst so erfolgreiche Band geschafft. Ihr Gründer Andrej spielte zu Beginn der Pandemieheute mit seinen beiden Kindern auf dem Berliner Kollwitz-Platz zum Wochenmarkt. Oder wenn sie Glück haben, in der Show des vielseitigen Star-Violinisten Daniel Hope auf “Arte”.
Die Zeit der großen Bälle unserer Tage war übrigens schon eine Weile vor dem Virus vorbei. Zu teuer. Veranstaltungen wie diese sind nicht möglich ohne Sponsoring. Selbst dann kosten die Karten an die 200 Euro für Mitglieder der Bundespressekonferenz. Für Nichtmitglieder mehr als doppelt soviel. “Flaniertickets” billiger als jene mit festem Sitzplatz. Aber das Geld sitzt bei den großen Firmen nicht mehr so locker wie früher – zumal “Compliance”-Richtlinien dem populären Korruptionsverdacht entgegenwirken sollen. Zum Hausorchester” des Presseballs avancierte daher die Bigband der Bundeswehr. Dies vorzügliche Allerweltsorchester darf keine Gage nehmen, sondern nur eine (stattliche) Spende zwecks wohltätiger Verwendung.
Wir haben uns in der Tempelhofer Abflughalle auch deshalb so wohl gefühlt, weil der Veranstaltung ein Rest von Improvisation anhaftete. Doch das ging der Mehrheit nicht so. Weil nicht alles reibungslos gelang – vor allem die Versorgung mit edlen Speisen – twitterte schon nach kurzer Zeit ein Shitstorm aus den Smartphones hungriger Gäste auf den Ball hernieder.
Die Unzufriedenen wurden schnell erlöst: Das Hotel “Adlon” – Inbegriff des Gesamtberliner Nobel-Schuppens – füllte begierig die Lücke, die das Alt-Westberliner “Interconti” hinterlassen hatte. Da war zwar kaum Platz zum Tanzen. Aber perfekt inszenierter Luxus im Überfluss. Ein Angebot, das die Vertretung der Hauptstadtkorrespondenten nIcht ablehnen konnte. Ich geb’ zu: Einmal wollte auch ich da rein. Aber zwei Mal Schnuppern hat der Liebsten und mir gereicht. Dann haben meine Frau und ich schon in präpandemischer Zeit entschieden: Ball passee…
PS: Unsere Lieblingslocation hatte auch ohne Corona keine schillernde Zukunft. Denn dort, wo heutzutage geimpft wird, zogen im Jahr nach dem ultimativen Tanzvergnügen Flüchtlinge ein. Der Flughafenball mag zwar vielen aus der Berliner Gesellschaft nicht fein genug gewesen sein, aber eine derartige Sause gleich neben den Schlichtquartieren für Asylsuchende aus aller Welt – die allfälligen Schlagzeilen hätten auch die abgebrühtesten Journalisten nicht ausgehalten. Und die Politiker sowieso nicht. So bleibt unser Traum-Ball ein Solitär. Umso schöner lässt sich davon schwärmen. Und wir träumen von der ersten Milonga nach der zweiten Impfung. Es muss ja nicht gleich mit unserer Berliner Lieblings-Tangoband sein.