In Buenos Aries gibt es alles. Und das Gegenteil. Mag der Tango auch weit davon entfernt sein, heute noch den Sound der Stadt zu prägen… wer sucht (und die richtigen Leute kennt), kann sich der größten Vielfalt erfreuen, die es irgendwo auf der Welt gibt – zum Beispiel der alternativen Codigos, also Benimmregeln, die der Berliner Tangofreund Heinrich in der Milonga „Muy Lunes“ im Stadtteil San Telmo gefunden hat (https://www.facebook.com/muylunestango).
Ich habe mich auf meiner Wallfahrt ins Mekka des Tango (mit zwei Ausnahmen) in eher traditionellen Kreisen bewegt. Aber auch die unterscheiden sich durchaus von den meisten einschlägigen Veranstaltungen hierzulande (soweit ich sie kenne). Das beginnt bei der Musik: Eine Anwärmphase mit den berühmten langsamen „Quietschetangos“ der ausgehenden 20er bis Anfang der 30er Jahre scheinen die argentinischen TangoDjs nicht zu brauchen.
Sie steigen ein mit den hoch rhythmisch/dynamischen Tangos aus jenem Teil der Epoca d’Oro, als Rudolfo Biaggi auf dem Klavierschemel in Juan d’Arienzos Orchesta Tipica Platz genommen hatte. Da bleiben sie auch. Höchstens mal eine Erholungsrunde gemessenen Tempos mit Stücken von Francisco Canaro nach einer schnellen Milongarunde oder seltene Ausflüge in die Phase 1955plus. Ich hab einen Musicalisador erlebt, der heizte die Stimmung an, indem er die Orchester einer Tanda samt Sänger mit großer verbaler Geste ansagte. Wieder andere spielen ihre Tandas mit nur drei Stücken, um die Dynamik zu erhöhen und den Wechsel in der Tanzgemeinde zu beschleunigen. So wird die Milonga zur fröhlichen Tanzparty, die alle immer wieder gern besuchen.
“Codigos normalos” in Buenos Aires
Es passt zu dieser Philosophie, wie durchgängig anders als hierzulande mit „Don“ Osvaldo Pugliese umgegangen wird. Titel aus seinem Schaffen werden keineswegs erst am Ende gespielt, sondern meist schon nach etwa einem Drittel einer Milonga (auch nachmittags) – und zwar aus der reifen, der „Hardcore-Pugliese“-Phase. Erfreulicherweise muss es (wieder anders als bei uns) dann auch nicht bei einer einzigen Tanda bleiben.
Im Gegensatz zum eingangs erwähnten „Muy Lunes“ wird die Musik unterschiedlicher Orchester jedoch grundsätzlich durch Cortinas getrennt. Dann leert sich die Tanzfläche (jedenfalls fast), und das Spiel der Aufforderung – durchgängig per Cabeceo, also Augenkontakt – beginnt von Neuem (ein wenig mehr darüber in der nächsten Folge). Manchmal allerdings wird der kurze musikalische Vorhang mit „otros Ritmos“ wie Salsa oder Rock ‘n’ Roll nicht nur an-, sondern ausgespielt und von einer gewichtigen Minderheit betanzt.
Selbstverständlich weiß ich, dass die Begriffe „original“ und „authentisch“ von intellektuell höchst zweifelhafter Qualität sind – nicht nur, wenn es um die Werbung deutscher Tangoschulen geht. Aber wie wohl die meisten Reisenden nach Buenos Aires wollte ich wissen, wie es sich anfühlt, den echten Tango zu tanzen. Also musste eine waschechte „Porteña“ (*) als Partnerin her. Ganz einfach ist das nicht, denn wir Touristen sind aus den meisten Milongas der Stadt nicht mehr wegzudenken und häufig nicht bloß eine kleine Minderheit.
Auf der Suche nach derlei „Authentizität“ ist das fortgeschrittene Lebensalter der Zielpersonen beiderlei Geschlechts ein wichtiger Hinweis. Denn erst hatte der Siegeszug von Elvis Presley ff. den Tango aus dem Status des Massenphänomens vedrängt. Dann wurde er von der Militärdiktatur unterdrückt – nicht zuletzt weil auf den Milongas womöglich kritisch kommmuniziert wurde. So ist dem Tango mehr als nur eine Generation verloren gegangen.
Wer nach einer oder einem echten Eingeborenen sucht, wird mit der größten Wahrscheinlichkeit in einer der Nachmittagsmilongas fündig, die es in erfreulich großer Zahl gibt. Hier wird fast durchgängig im Milongeuro-Stil getanzt. Auf Anhieb eng selbst mit eingeflogenen Etrangeros/as aus Übersee. Das choreografische Repertoire ist eher schlicht – auch über die Begrenzung durch die enge Tanzfassung hinaus. Vor Wiederholung ihrer bewährten Sequenzen haben die „Porteños“ nicht die geringste Scheu. Wer seit Jahrzehnten keine Tanzschule besucht hat, verspürt auch keinen Drang, mit irgendwelchen teuer erkauften Kapriolen zu protzen. Das gibt dem Tanz ein hohes Maß an selbstbewusster Gelassenheit.
Allerdings fassen die Porteños dabei gern in einer Art beherzt zu, die von Tänzerinnen hierzulande schon mal als „Klammergriff“ kritisiert wird. Entsprechend irritiert reagieren die Porteñas, wenn ihr auslänischer Partner versucht, an ihnen jene „europäisch“ hauchzarte Projektion seiner Tanzabsichten zu exekutieren – die ihm inzwischen auch die meisten jungen einheimischen Tangolehrer nahebringen. Schließlich erzielen sie einen großen Teil ihrer Einkünfte im Ausland. Da können zwischen einem Unterrichtsvormittag in Buenos Aires und einem Tanznachmittag in derselben Stadt schon mal Welten liegen.
Wer aber bereit ist, den neumodischen Kram für eine Weile zu vergessen, wird durchaus belohnt. Denn die Frau- und Herrschaften in Buenos Aires zeichnet aus, wofür es in Deutschland erst seit nicht allzu langer Zeit eine wachsende Zahl von Spezialkursen gibt: Musikalität. Ganz selbstverständlich gehen sie auf im Stakkato und Legato der Musik – oft mit dem i-Tüpfelchen textsicheren Gesangs ins Ohr des/der PartnerIn. Apropos Belohnung: Die Damen, mit denen ich getanzt habe, sparten nicht mit offenem Zuspruch (auch mitten im einem Stück), wenn ihnen einmal besonders behagte, wie der Fremde sie in seinen Armen über die Pista geführt hat.
Ich erinnere mich durchaus gern an die Tänze mit den Porteñas und einige Erlebnisse drumherum (auch davon später mehr). Aber auch dies sei nicht verschwiegen: Die hierzulande immer wieder reichlich beschworene „Magie“ der Umarmung, die das Paar in eine eigene Welt tangonaler Doppelmeditation entführt, habe ich mit keiner der original argentinischen Tanzpartnerinnen gespürt. Mein in diesem Sinne schönstes Tanzerlebnis hatte ich im touristischen Hotspot Salon Canning zur Musik von Osvaldo Pugliese. Mit einer Italienerin.
(*) Die alt eingesessenen Einwohner von Buenos Aires bezeichnen sich gern als „Portenos“, obwohl der Hafen seine überragende Bedeutung für die 13-Millionen-Metropole längst eingebüßt hat. Gern wird auch – selbstverständlich ohne die Angabe der ausländischen Quelle – ein Satz des mexikanischen Literaturnobellpteisträgers Octavio Paz zitiert: „Die Mexikaner stammen von den Azteken ab, die Peruaner von den Inkas und die Argentinier von den Schiffen.“
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Sehr interessante Beobachtungen, danke!