Wie viele TangotänzerInnen kaufen noch oder wieder CDs mit unserer Musik – zum Hören daheim oder zum Verschenken? Nutzen sie Youtube oder Streamingdienste wie Spotify? Ich weiß es nicht. In der Weihnachtszeit sind es womöglich etwas mehr als im Schnitt des Jahres. Deshalb an dieser Stelle einige Tips – sechs Beispiele für die Vielfalt des Tango. Die Künstler in der Reihenfolge ihres Auftretens: El Cachivache, Orchesta Romantica Milonguera, Cuartetto Rotterdam, Plaza Francia Orchestra, Iwan Harlan, Pablo Ziegler.
El Chachivache
Das Label haben sie sich selbst verpasst: „Tangopunk“. Aber so ist das in der Werbung: Was drauf steht, muss nicht unbedingt drin sein. „Cachivache“ beginnen ihre Live-Auftritte zwar mit einem kurzen akustischen Inferno. Doch selbst das klingt weniger nach „Sex Pistols“ als nach Jimi Hendrix. Und danach spielen sie ganz brav Tango. Von den Klassikern unterscheiden sie außer der Irokesenfrisur des Pianisten nur die E-Gitarre und das (in aller Regel) forcierte Tempo. Die „Tangodanza“ brachte ihren Sound treffend auf den Begriff „D’Arienzo auf Speed“.
Die wichtigste Differenz aber zu den anderen neoklassischen Tangoensembles: Sie beschränken sich nicht auf Coverversionen berühmter Titel aus der Epoca d’Oro. In ihrem Repertoire nehmen Eigenkompositionen eine immer größere Rolle ein. Die haben den „Test of Time“ zwar noch nicht bestanden. Aber es sind einige sehr eingängige Titel darunter. Tanzbar sowieso. Für ihre neue CD „Lujo y Fantasia“ (Luxus und Phantasie) haben die beiden Gründer, Pianist Pablo Montanelli und Gitarrist Vito Venturino, sechs Stücke selbst geschrieben. „Muerte Dulce“ – „Süßer Tod“: Ein sehr elegisches, überhaupt nicht punkiges gibt den Soundtrack zu einem Berlin-Video – aufgenommen in der Tangoschule Nou und dem Rest der Stadt. Die Musik kann von ihrer Site heruntergeladen werden. http://www.elcachivache.info
+++
Orchesta Romantica Milonguera
Sie sind wohl die erfolgreichste unter den aktuellen Coverbands, die sich der Musik rund um die Goldene Epoche des Tango verschrieben haben: Das Orchesta Romantica Milonguera. Außer dem ausgefeilten Sound auf den Spuren von Fulvio Salamanca ist dafür nicht zuletzt die charismatische Sängerin Marisol Martinz verantwortlich. Bin gespannt, wie es mit der neuen Sängerin weiter geht. Aufwändig produzierte Videos mit angesagten Showtänzern tun ein Übriges. Um ihre Zielgruppen noch genauer anzusprechen, spielen die MusikerInnen auch in unterschiedlichen Teilformationen wie dem „Orchesta Tipica Tanturi“.
Neuerdings gehen sie auch im Vertrieb neue Wege: Außer herkömmlichen CDs mit 10 und mehr Titeln bieten sie an, was im Vinyl-Zeitalter eine „EP“ hieß: Vier Stücke pro Einheit. „Disco Tanda“ haben sie das Format genannt. Da werden zum Beispiel Duoaufnahmen vereint oder Boleros. Tandas zum Tanzen Daheim. Das gesamte Angebot ist zu finden unter https://www.musicosmilongueros.com
+++
Cuartetto Rotterdam
Die Berliner Gruppe hatte eine ähnliche Idee, setzt sie jedoch anders um. Unter dem Titel „Un Placer“ versammelt das Cuarteto, eins der besten Tangoensembles in Europa, Musik der vier Großen des klassischen Tango: Carlos Di Sarli, Juan D’Arienzo, Anibal Troilo und Osvaldo Pugliese. Dabei mischen sie Hits wie „Indio Manso“, „El Hurican“ oder „Milonga de mis Amores“ mit weniger bekannten und sogar einigen unveröffentlichten Titeln.
Hier ist die ganze CD organisiert wie eine Milonga: Je drei Stücke aus dem Repertoire eines Orchesters, dazu Valses und Milongas. Für die Cortinas hatten sie einen besonders hübschen Einfall: Songs der Beatles zauberhaft zart angeschlagen auf einem Glockenspiel. Bei ihren Arrangements bemühen sie sich um höchte Werktreue. Aber von einem Quartett mit Bandoneon, Geige, Klavier und Bass gespielt, klingen die Stücke viel filigraner als die Originale.
Quarteto Rotterdam, Un Placer, La Casa del Tango Berlin
+++
Plaza Francia Orchestra
Gotan Project ist wieder da. Die Pioniere des Electrotango haben sich neu erfunden. Der Titel spielt auf einen Platz in Buenos Aires an. Ohne ihre früheren Mitstreiter Philipe Cohen-Solal sind Christoph H. Müller und Eduardo Makaroff neue musikalische Beziehungen eingegangen – unter anderem mit dem Bandoneonisten Pablo Gignoli und dessen Piano-Partner SebastianVolco. Dazu einige junge TangomusikerInnen aus Paris, als Gäste die beiden Sängerinnen Lura sowie die Schauspielerin und Sängerin Catherine Ringer. Müller und Makarof arbeiten schon ein paar Jahre an dem neuen Projekt.
Es tut ihren Ideen gut, dass nicht mehr nur am Computer entworfen, sondern gemeinsam mit realen Musikern erarbeitet und umgesetzt werden. Ganz „unplugged“ ist das Ganze nicht. Die elektronischen Spielereien haben die beiden nicht völlig aufgegeben. Aber sie stellen sie in den Dienst des Tango. Nicht umgekehrt. Scharfe Rhythmen sind zu hören, aber auch weichere Klänge, dazu Anleihen bei lateinamerikanischer Folklore und französischem Chanson. Eine ebenso temperamentvolle wie abwechslungsreiche Mischung. So kann der Tango des 21. Jahrhunderts klingen.
+++
Iwan Harlan
Angeregt durch den Erfolg des früh gestorbenen Roger Cicero, der Swing mit deutschen Texten spielte, hat sich Iwan Harlan dem „Tango aleman“ verschrieben. Nun ist Tango mit deutschen Texten nichts Neues. Den gab es schon in den 1920er/30er Jahren, gespielt von den besten Tanzorchestern des Landes. Die Musik klang eher europäisch; die Texte kamen meist leichtfüßig daher. Der Musiker und Tangolehrer vom Niederrhein orientiert sich dagegen am Vorbild aus Buenos Aires. Sein Texter, der Comic- und Kinderbuchautor Martin Baltscheid, ist um melancholischen Tiefsinn bemüht. Dabei scheut er allerdings nicht vor, nun ja, sehr gängigen unreinen Reimen zurück: „Warum bin ich so trübe/weil ich dich liebe/warum springt denn mein Herz/ich glaube vor Schmerz.“
Zum Glück sprechsingt Harlan seine Kompositionen mir rauer Stimmer eher pop-chansonesk. So setzt seine Interpretation dem Schwulst der Texte enge Grenzen. Den besten Griff aber hat er mit seinen Musikern getan. Das argentinische Quartett „Amores Tangos“ spielt so kraftvoll, lebensfroh und ein wenig rockig, dass man glatt vergessen kann, auf die Texte zu achten. (“Volver” ist übrigens der einzige Text, den Iwan selbst übertragen hat.)
Iwan Harlan, Tango Alleman, Magan Music
+++
Pablo Ziegler
Von ganz anderem Charakter ist Pablo Zieglers Projekt mit dem schlichten Titel „Solo“. Der Pianist, der in diesem Jahr mit seinem Trio (Hector del Curto bd, Claudio Ragazzi g) für die CD „Jazz Tango) einen Grammy in der Sparte „Latin Jazz“ gewonnen hat, schwelgt in allen Facetten seiner Fähigkeiten als Pianist. Genregrenzen lässst er hinter sich. Er klingt so gelöst, als sitze er daheim am Flügel und spiele, was ihm gerade einfällt: Klassische Tangos, Eigenkompositionen und selbstverständlich Stücke von Astor Piazzolla, dessen letztem Quintett er ein Jahrzehnt lang angehört hat. Eine Scheibe zum Sitzen, Lauschen und Genießen – auch für Tangoneulinge und Liebhaber der klassischen Musik.
Pablo Ziegler, Solo, Steinway & Sons
3 Comments
Einfach mal DANKE Thomas, für schönen Schlaglichter auf aktuelle Musik zum Verschenken, Vertanzen und Genießen! Mir schmeckt’s ! 😊
ich bin sehr froh darüber, dass immer mehr eigenkompositionen bei live auftritten einzug halten. es tut dem tango gut, auch in der gegenwart zu leben!
Toller Beitrag, lieber Thomas
Nur kann ich nicht ohne einen leicht bitteren Unterton zu den neuen Produktionen Stellung nehmen. Dennoch möchte ich auch zwei, drei Vorsschläge machen.
Pablo Ziegler wie immer genial.
Witzig das verlinkte Stück von Chachivache.
Orquesta Romantica…. etc. sollte mehr an die Qualität arbeiten. Brilliant war ihre Version von Canaros Invierno. Aber das Salamanca-Zeugs ist eher peinlich. Da gibt es viel Besseres in BA. Aber die Orq. macht erfolgreich Marketing mit süssen Girls in getüpfelten Kleidern.
Iwan Harlans Idee finde ich grossartig. Allerdings hinken nicht nur Text (Müsterchen von Thomas und verlinkter Song), sondern auch die Interpretation. “Volver” ist tief melancholisch (und wunderschön). Ein Franzose wie Anznavour hätte kein Probem damit, auch kein Italiener wie Gianni Meccia…und gewiss auch nicht ein brillianter Künstler wie der viel zu früh verstorbene Roger Cicero. Aber diese aufgesetzte Gleichgültigkeit und Unverbindlichkeit in der Intonation von “Zurüüück…” tut echt weh. Wo ist die grosse Tradition der Deutschen Romantik geblieben. Warum tun sich so viele zeitgenössische, deutschsprachige Künstler (in Lied und Text) so schwer mit der Melancholie, ist sie doch allgegenwärtig. Was der Lateiner ausdrücken kann, könnte der Deutsche auch. Es gibt wenige Ausnahmen. Warum alles hinter diesem Vorhang von “Lässigkeit”, “Coolness” oder gar von “Sauglattismus”? Weil die Menschen hier (und ich meine damit auch uns Schweizer) zu viel Angst vor ihren Gefühlen haben. Ja, es darf auch einmal weh tun…
Eine Besonderheit an dieser Stelle sind Künstler wie Max Raabe und sein Palast-Orchester. Feine Ironie schwingt immer mit, ein bisschen Distanz ABER grosse Liebe für die brillianten Kompositionen aus den 30ern und auch grosse Achtsamkeit in der Interpretation. Handwerklich wäre so etwas auch im Stile des Tango de Salon möglich.
https://www.youtube.com/watch?v=9LK7m97fNmA
Das Angebot an CDs ist hierzulande(n) problematisch. Oktober war ich wieder enmal in BA und brachte viel “Material” nach Hause..Da gäbe es in Sachen Tango etwas mehr. Aber den kulturellen Mainstream in Europa interessiert das nicht.
Adriana Varella hat sehr viel produziert.
https://www.youtube.com/watch?v=bvO4wp0JMtg
Leider fand ich in den Geschäften noch nicht die längst erhoffte CD der Orquesta Tipica Pichuco…. Das Orchester spielte an einem Samstag ausserhalb von BA, was für mich zu weit war 🙁
https://www.youtube.com/watch?v=YJqlB4PJUBU
https://www.youtube.com/watch?v=4kbsEpjZLaY
Victor Lavallen, der letzte überlebende Musiker des “Sextetto Tango” (alle verliessen mit Maciel Pugliese im Jahr 1968) leitet mittlerweile “La orquesta de la escuela Balcarcé”. Von ihm gibt es ein paar CD-Produktionen, die ich mit nach Hause brachte. Sofern irgendwo erhältlich unbedingt besorgen 🙂
https://www.youtube.com/watch?v=dVrDJvr3mJg
Hoffe nicht zu sehr offtopic zu sein.
Frohe Festtage