Das Contemporary Tango Festival 2018 ist zu ende. Ich habe es mit einem Tagebuch begleitet, das in Wort und Video von jenen Ausschnitten berichtet, die wahrzunehmen, ich mich in der Lage sah. Mein grundsätzlicher Überblick bleibt im Anschluss erhalten.
Letzter Tag: It takes two to tango. Vorbei. Die Tangoszene ist aus der Öffentlichkeit des Berliner Hauptbahnhofs wieder in den Kokon ihrer Milongas zurückgekehrt. Obwohl ich die Afterparty gestern Abend im Tangoloft ebenso geschwänzt habe wie Samstagnacht schon die Huldigung für Elio Astor II, den King of Neotango, plagt mich eine gewisse Müdigkeit. Und ein nachhaltiger Schmerz an der Außenseite des rechten Fußes. Friedlich am Rand der Pista sitzend hatte mich der Stilet-Absatz einer Tänzerin trefflich touchiert. Meinen Aufschrei quittierte sie mit dem Hinweis, dass es nicht an ihr sei, sich zu entschuldigen, da ihr Partner sie geführt habe. Nun ja…
Zuvor war ich vier Tage unfallfrei durch das Contemporary Tango Festival gekommen – obwohl oder vielleicht sogar: weil es im Grundfloor des Berliner Hauptbahnhofs zuging wie im Straßenverkehr einer südeuropäischen Großstadt. Regeltreue: Eher gering. Siuationsangepasstes Verhalten: Eher groß. Am Sonntagnachmittag geschah dann, was auch in „normalen“ Milongas oft passiert, wenn die Teilnehmerzahll allmählich zuück geht. Manche TänzerInnen lassen in der Aufmerksamkeit für ihre Umgebung nach. Es ist ja Platz, plötzlich… Außerdem, so hat es der CTF-Organisator Andreas Rochholl schon in den vergangenen Jahren wahrgenommen: Um diese Zeit wird die nicht tanzende Bahnhofsumgebung hektischer als des Abends. Das überträgt sich offenbar auf die Tangocommunity.
An der Musik kann es jedenfalls nicht gelegen haben. Denn mit Judith Brandenburg und Carlos Libedinsky klang die Veranstaltung so konzentriert wie ihrem Ende entgegen: Ein Duett zweier großartiger BandoneonistInnen. Sensibel intoniert ging die Reise durch die Geschichte nicht nur des Tango. Zum Auftakt spielten die beiden, dem Genuius Loci nachspürend, ein Stück von den Beatles: „Here, there and everywhere…“ Leider hab’ ich nicht rechtzeitig auf den Kamera-Auslöser meines Smartphons gedrückt. Zwei Sets hab ich fast nur gesessen, gelauscht und mich an dem großenteils improvisierten Dialog erfreut. Dabei stellte Carlos Libedinsky auch bemerkenswerte Fähigkeiten als Sänger unter Beweis. In der dritten Runde hatte ich das Glück, an zwei Tänzerinnen zu geraten, die eine ähnliche Begeisterung für dies intime Stück Kammermusik im rummeligen Riesenrund entwickelten wie ich.
Zum guten Schluss ein kurzes Fazit: Das Contemporary Tango Festival findet nicht nur an einem ungewöhnlichen, wahrscheinlich sogar einmaligen Ort statt. Es weist auch eine musikalische Bandbreite auf, die ihresgleichen so schnell nicht finden dürfte – von der Epoca d’Oro bis zu Electro- und Neotango oder tänzerischen Experimenten wie der Begegnung mit asiatischer Kampfkunst. So fragmentiert die Szene auch sein mag, hier im Berliner Hauptbahnhof kommt sie dem alten Postulat so nahe wie selten: Es gibt nur einen Tango. Fast jedenfalls. Denn auch das sei nicht verschwiegen: Es gibt TänzerInnen, denen geht schon der Gedanke an moderne Musik so sehr gegen den Strich, dass sie nicht einmal kurz hereinschnuppern. Obwohl es keinen Eintritt kostet und jede(r) seine Getränke mitbringen darf. Dabei könnten die Traditionalisten ganz zufrieden sein: Die lange Nacht mit klassichem Tango zieht (über den Daumen gepeilt) alljährlich die meisten BesucherInnen an. Dem Titel „The real Tradition“ wird sie allerdings nur fast gerecht. Denn zu den goldenen Zeiten des Tango spielte in den Milongas ein „Orchesta tipica“ abwechselnd mit einer Jazzband. Warum also nicht zum „Quinteto Angel“ (um nur ein Beispiel zu nennen) einmal: Andrej Hermlin und sein Swingdance Orchestra einladen? Die stammen aus Berlin und sind auch in gagengünstiger Kleinbesetzung zu haben. Am Titel müsste man nicht viel ändern: „Epoca d’oro meets golden era – 6 hours 100 % live music“.
Tag 4: Die richtige Tradition. Eine richtiger Milonguero wird wohl nie aus mir. Wenn die Tangojunkies gerade mal anfangen aufzuwachen, bin ich schon müde. Deshalb war für mich auch gegen Mitternacht Schicht, obwohl die lange Nacht des „Quinteto Angel“ noch zweieinhalb Stunden weiter ging – und die Stimmung im Berliner Hauptbahnhof besser kaum hätte können. Zum „contemporary Tango“ gehört es eben auch, wenn aktuelle Spitzenmusiker die Stücke längst toter Tangogrößen von der Epoca d’Oro bis zu Astor Piazzolla auf ihre Weise interpretieren.
Christian Gerber ist einer der meist beschäftigten Bandoneonisten Europas. Mit seinem “Quinteto Angel“ hat er beim Berliner CTF eine junge Tradition begründet. Die Musiker spielen fast unter Bedingungen wie in den Glanzzeiten des Tango in Buenos Aires: Keine Konserven.100 Prozent Livemusik einen ganzen Abend lang. 104 Titel umfasste die Playlist des Sexteto in diesem Jahr. Sechs Stunden. Das ist auch für routinierte Profis eine Herausforderung, die nur mit dem Schub von Adrenalin und Glückshormonen zu bewältigen ist. Dafür sorgt ein tanzendes Publikum, das die Band von Applaus zu Applaus trägt. Da hatten es die Musiker in der Epoca d’Oro einfacher: Sie wechselten sich mit einer Jazzband ab. Manche eilten während deren Auftritt allerdings auch in die Nachbar-Milonga, um dort einen zweiten Gig zu absolvieren.
In gelegentlichen (Fast-)Pausen in Berlin setzt sich der gandiose Pablo Woizinski ans Klavier und begleitet den Sänger Omar Fernandez „El Aleman“ zu intimen Tango Cancion. Aber meist steigt Christian Gerber schon beim zweiten Stück wieder ein. Die Uhr rückte gerade auf Mitternacht, als die drei „Malena“ intonierten. Der Klassiker von Lucio Demare und Homero Manzi ist eins meiner Lieblingsstücke. Und „El Aleman“ lenkt mit seiner klaren, kräftigen Stimme variationsreich durch die traurige Geschichte der Frau, die den Tango singt wie keine andere. Zuhören. Dahin schmelzen. Ich hätte jetzt keinen Schritt mehr tanzen mögen. Zum Glück sind die Temperaturen so gefallen, dass ich mir am nächsten morgen ein heißes Bad mit ätherischen Essenzen einlassen kann, die Rücken und Gliedmaßen pflegen.
Normalerweise sind in dieser Nacht die Musiker die einzigen Stars. Und das tanzende Publikum. Diesmal gibt es eine kleine Ausnahme. Effektvoll arrangiert. Aus den 104 Titel der Playlist werden drei Titel herausgefischt. Die Musiker greifen zu den Noten und ein Berliner Tangolehrer-Paar tanzt zur Überraschungsmusik. Bei einem Gassenhauer wie Anibal Troilos „Romance de Barrio“ geht schon nach den ersten Tönen ein erkennendes Lächeln über die Gesichter von Gökce Ceren Haznedar und Michael Sacher. Dies „Was kommt denn jetzt?“ sind wir TänzerInnen gewöhnt aus den Milongas. Aber auch für (halb)Profis ist es eine mindestens kleine Herausforderung, ohne Probe vor Hunderten von Zuschauern loszulegen. Dies Stück dürften die beiden allerdings schon das ein oder andere Mal getanzt haben.
Dies ist überhaupt eine Nacht der eher vertrauten Töne. Wer tanzen kann, der tanzt jetzt – so oft und so lange er/sie kann. Die Tangogemeinde breitet sich immer weiter aus im Groundfloor des Bahnhofs. Eine ältere Dame muss von ihren Verwandten fast weg gezerrt werden, so fasziniert sie dies für sie neue Treiben. Eine meiner Tänzerinnen ist gerade nach anstrengendem Arbeitstag aus Hamburg gekommen. Sie hat sich nicht nur in ihrem Hotel tangogerecht umgezogen, sondern zum Sekt auch einen edel aussehenden Kelch mitgebracht. Ich begnüge mich mit daheim abgefüllten Rotwein aus der Plastikflasche. Die Läden haben längst geschlossen. Auch dies provisorische Selfcatering gehört zu den Eigenheiten die den Charme des Contemporary Tango Festivals im Berliner Hauptbahnhof ausmachen.
Tag 3: Tangrenalin. Heute hab’ ich mich über eine akustische Wolke klassischen Tangos gefreut, als ich die Rolltreppe vom S-Bahnsteig hinab in Richtung Festival-Playground gefahren bin. Angekommen, springt mir gleich der markante Kahlschädel von Michael Rühl ins Auge. Der Gastgeber mehrerer Berliner Milongas ist am dritten Tag für die Öffnung der Konserven zuständig und serviert neu(er)en Tango diesseits der Goldenen Epoche, wie ich ihn mag. Ein Schatz nach dem andern. Der Altmeister des Auflegens, der nebenbei übrigens Saxophon spielt, fischt auch immer wieder Aufnahmen von Astor Piazzolla aus seinen Zentner schweren Kisten, prall gefüllt mit bunt eingetüteten Vinyl-Scheiben. Darunter „Deus Xango“ von der einzigen LP, die Piazzolla mit dem amerikanischen Bariton-Saxophonisten Gerry Mulligan aufgenommen hat. Einer meiner All-Time-Favorites. Trotzdem werde ich an diesem Abend nicht so recht froh. Aber davon später.
Michael Rühl teilt sich die Bühne heute mit Judith Brandenburg. Unter anderem. Die Berliner Bandoneonistin und Komponistin hat das Konzept für diesen Abend entwickelt und das Namen gebende Stück komponiert. Es tanzen: Lilia, Tangolehrerin im Tangoloft und Jie Rui Zhang. Der Kung Fu Meister aus Spandau bestimmt den Geist des Geschehens – obwohl Lilia immer wieder eigene Akzente setzt. Er führt. Auch ohne direkten Körperkontakt. Faszinierend zu sehen, wie die Kampfkunstbewegugen in den Tango hinüber fließen. Aber schaut Euch am besten das Video an.
Von mir nur noch ein Hinweis: In seinem Buch „Leidenschaftlicher Kampf und vollendete Kommunikation“ hat der Bonner Tango-Aficionado Rene´ Baltus schon vor knapp zehn Jahren die Gemeinsamkeiten der Bewegungsmuster von Tango und Martial Arts untersucht. Dabei ging es ihm nicht nur um die asiatischen Varianten, sondern vor allem um die Messerkämpfe der Compadres und Compadritos in Buenos Aires zur Zeit der Entstehung des Tango. (*)
Ansonsten hat es mir die selbst auferlegte Chronistenpflicht schwer gemacht, diesen Abend wirklich zu genießen. Denn um auf jeden Fall eine gute Position zum Filmen zu beekommen, hab’ sich eine meine Lieblingstänzerinnen frühzeitg verabschiedet, die mit der Musik von „La Bicicleta“ etwas anzufangen wusste. Später musste ich feststellen, das dies nicht bei allen (auch guten) Tänzerinnen der Fall ist. Wenn aber der Tanz nicht die nötige Andrenalin/Endorphin-Mischung produziert, melden sich die körperlichen Gebrechen. Um mit Hape Kerkelings Horst Schlämmer zu sprechen: Ich hatte Fuß, Oberschenkel und Rücken – und deshalb auch bald genug. Zum Abschluss noch ein Stimmungsvideo aus dem nächtlichen Bahnhof kurz vor meiner Heimfahrt. Arbeitstitel: Leerer Bahnsteig mit leisem Tango.
(*) Bonn 2009, 156 S. Menschen mit Sinn für intellektuelle Skurilitäten werden sich auch an seiner Anwendung von Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handenls auf den Tango erfreuen.
Tag 2: Russischer Tango – eine Reise durch die Zeit. Als hätten die beiden Tangometropolen (die tatsächliche und die möchtegernige) sich abgesprochen: In Buenos Aires gelingt es einem russischen Paar, die Weltmeisterschaft im Bühnentango zu ertanzen. In Berlin steht der zweite Tag des Contemporary Tango Festival 2018 im Zeichen des russischen Tango. Nun tanzen Sagdiana Hamzina und Dmitry Vasim Tango Argentino. Aber wer sie auf Youtube gesehen hat, meint doch, russische Ballett-Tradition zu erkennen. Russischer Tango (*) wiederum ist heutzutage und hierzulande noch exotischer als sein türkischer Verwandter, während der finnische sogar zu Ehren eines Kultfilms gekommen ist. (**) Kaum etwas erfüllt das Klischee von der „rrrussischen Seele“ so perfekt wie der russische Tango. Das räumte auch die Sängerin Natasha Tarasova bei ihrem Auftritt im Hauptbahnhof ein. Da fehlen die Temperamentsausbrüche und Schimpfkanonaden der Autoren aus Buenos Aires – nur abgrundtiefe Traurigkeit.
Aber Klischees sind auch dazu da, mit ihnen zu spielen und sie zu brechen. Dafür stand schon vor Jahren das ukrainisch/Berliner Trio Scho (***) mit seinen legendären Auftritten im Jazzclub „b-flat“. Hier paarte sich die Melancholie mit überschwänglicher Fröhlichkeit und Feierlaune (mit und ohne Wodka). Eine verwandte Variante gewinnen die vielseitige argentinische Tänzerin/Choreografin Erica Rist und ihr Partner Sergej Jerp (****) dem russischen Tango ab: Sie würzen ihre Interpretation mit Akrobatik und spielerischer Ironie. Nicht ohne Erfolg, wie ihr viel bewunderter und belachter Auftritt im Hauptbahnhof bewies.
Ansonsten weist der russische Tango nicht nur geografisch einige Nähe zum europäischen auf. Einfacher zu tanzen ist er deshalb nicht zwangsläufig. Denn die Musiker der „Kapelle Strock“ nehmen sich gelegentlich einige rhythmische Überraschungen heraus. Erst recht gilt das für die Moskauer DJane Anna. Sie hat ein Neotango-Repertoire drauf, wie wir es von Mona Isabelle gewöhnt sind. Aber sie mischt darunter auch Klänge, an die wir Berliner TänzerInnen uns erst gewöhnen müssen. Oder soll ich ehrlich sein: An die ich mich gewöhnen muss. Da unterbreche ich den abschließenden Schuhwechsel, weil mich „Hotel California“ von den “Eagles” zurück auf die Tanzfläche lockt – um mich plötzlich in einer zersampleten Technohölle wieder zu finden. Aber das ist Geschmacksache. Den meisten hat’s gefallen.
Zum Schluss lohnt es, noch ein Video anzuschauen, in dem weder musiziert noch getanzt wird. Darin stellen sich die Mitwirkenden des Abends vor. Wir lernen, dass nicht unbedingt Italoamerikanerin sein muss, wer sich Julia Juliati nennen. Vor allem aber nehmen wir die Friedensbotschaft mit nach Hause, dass eine russische Tangoband den Namen eines lettischen Komponisten trägt. Und noch ein friedenspolitische Statement: Natasha Tarasova trug den Brief eines sowjetischen Soldaten aus dem Weltkrieg vor, der seiner Frau berichtet, dass er in den Gefechtspausen Tango lerne.
*) Einen guten überblick über die Geschichte des russischen Tango gibt: Jens Malling, Oliver Will, Russischer Tango: Schiffbruch mit Musik: Die Tageszeitung, 9.8. 2015, http://www.taz.de/!5215795/
(**) https://www.zeit.de/kultur/film/2014-03/mittsommernachtstango-dokumentation-tango. Mit der türkischen Tango und seiner Geschichte hat sich vor jahren die Neuköllner Operin einer Produlktion auseinandergesetzt. Siehe: https://www.tagesspiegel.de/kultur/buehne/auspacken-tango-tuerk-in-der-neukoellner-oper/1669878.html
(***) http://www.kulturportal-russland.de/kuenstler.29.trio-scho-russische-kaffeehausmusik.perm
(****) http://www.divine-dance.de/index.htm
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Tag 1: A Bridge of Humanity – Grand Opening Night. (*) Dass ich Julia Juliati einmal einen Korb geben würde – ich hätt’s nicht gedacht. Aber die Musik driftete gerade so weit weg von jenen Gefilden, in denen ich tanzen mag… da fällt mir selbst mit der tollsten Partnerin nichts ein. Also besser bleiben lassen als uninspiriert herumstaksen. Es ist nämlich keineswegs so, dass ich auf alles fliege, nur weil die „Contemporary…“ draufsteht. Die einschlägige Szene praktiziert zuweilen einen Begriff von „Neotango“, in der zwar viel (jedenfalls für mich) Neues zu hören ist. Aber Tango? Mona Isabelle, die Berliner Djane und Co-Leiterin des CTF, ist eine Meisterin solcher Mischungen. So passiert’s halt, dass ich bereits auf einer Bahnhofstreppe hocke und die Schuhe wechsele, als eine Klangwolke meines geliebten Piazzolla zu mir herüber weht. Aber wenn ich’s diesmal schaffen will, jeden Tag hier rein zu schauen, muss ich mit meinen Kräften haushalten.
Wenn ich am liebsten tanze, geht Julia J., die Filmerin aus New York, meist ihrem Job als Chronistin des Festivals nach: Bei den Liveauftritten. Und Carlos Libedinsky hat mich am ersten Tag des CTF nicht enttäuscht. Gemäßigt experimenteller NeoTANGO, eher dreiviertel als halb akustisch. Allein das Schlagzeug! Alejandro Garcia ist ein Drummer wie ich ihn mag. Swingend, exakt und nie in den Vordergrund sich drängend. Pianist Mariano Castro streut spätestens dann seine jazzigen Riffs ein, wenn der Meister am Bandoneon sich anschickt, ins allzu launchig Elegische abzudriften. So kriegen auch die alten Narcotango-Hits neuen Pepp und die Tänzerlnnen Futter für die spielerische Beschleunigung ihrer Füße. Ansonsten kommen die meist midtempo gespielten Stücke meinem Temperament und meinen tänzerischen Fähigkeiten entgegen. Zumal die Unübersichtlichkeit der Bahnhofspista einiges an Aufmerksamkeit für die Navigation bindet. Schöne Tänze waren es trotzdem, mit bekannten wie unbekannten Partnerinnen. Auch wenn die eine an diesem Abend gefehlt hat.
PS: Dem “genius loci ist nicht nur die Relativierung von “St. Ronda” geschuldet. Wobei es übrigens zu erstaunlich wenig “Unfällen” kommt – die Leute passen halt auf (erinnert an den italienischen Straßenverkehr). Wunderbar durcheinander geht’s auch mit der Aufforderung. Äugelei gibt’s selbstverständlich auch im Bahnhof. Muss aber nicht. Das Schönste: Die Damen gehen viel eher in die Offensive als in den Milongas normalos. Mir hat zum Beispiel eine Bekannte einfach eine Hand von hinten auf eine Schulter gelegt. Die Folge waren einige sehr schöne Tänze.
(*) Die Videos auf dem Festival habe ich alle selbst aufgenommen. Wer nicht hätte gefilmt werden wollen: Beschwerden bitte an mich! Ich lösche dann umgehend.
Jetzt geht es weiter mit meinem ursprünglichen Text (samt allen Videos) über 10 Jahre Contemporary Tango Festival im Berliner Hauptbahnhof.
Ein Bahnhof ist kein Ort zum Verweilen. Hier pendelt das Leben zwischen Ankunft und Abfahrt. Ein schneller Einkauf vielleicht… Dann geht’s weiter. Doch einmal im Jahr setzt Andreas Rochholl die Bewegungsgesetze eines der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte der deutschen Hauptstadt für ein paar musikalische Momente außer Kraft. Gemeinsam mit Mona Isabelle Schröter vom „Tangoloft“ organisiert der Chef der „Zeitgenössischen Oper Berlin“ das Contemporary Tango Festival. (**) Für mich die interessanteste, die schönste Milonga der Stadt. Nicht nur die Atmosphäre ist einmalig, auch die vorwiegend moderne musikalische Mixtur, die live und aus der Konserve geboten wird – alles grundiert vom alltäglichen Sound des Bahnhofs: Das Kreischen der Zugbremsen, Türenschlagen, das Klackern der Rollkoffer, offizielle Ansagen, Kindergeschrei und Fetzen informeller Gespräche der Reisenden.
Knapp eine Woche lang kommen Menschen hierher, um den Hauptbahnhof als Konzertsaal in Besitz zu nehmen. Und als Tanzfläche. Nachmittag für Nachmittag. Abend für Abend. Nacht für Nacht. Woher auch immer, wie viele auch immer. Eine Registrierung wie bei einem „normalen“ Festival gibt es nicht. Wozu auch. Das Ganze ist umsonst und drinnen. Seit 10 Jahren stürzt die Veranstaltung so manchen Reisenden in Verwirrung. Denn wer aus A nach Berlin kommt oder es in Richtung B verlassen möchte, erwartet nicht, dass er am Ende einer Rolltreppe von mehr oder weniger jungen Menschen empfangen wird, die ihm weltvergessen vor die Füße tanzen – zu einer Musik, die in ihren Bann zu ziehen vermag, aber oft erst einmal fremd klingt.
Angefangen hat das Festival unter dem Titel „Ohrenstrand“. Es sollte die Reisenden im vorüber Gehen mit zeitgenössischer Musik in Berührung bringen. (***) Da spielte schon mal irgendwo ein einsamer Cellist auf einem Bahnsteig 24 Stunden lang schräge Töne. Das Land Berlin verlor irgendwann die Geduld mit dem experimentellen Lärm und entzog seine Förderung. Die Werbegemeinschaft der Berliner Bahnhöfe übernahm. Aber sie fand aus dem Angebot am attraktivsten, was zunächst nur den Auftakt bildete: Den argentinischen Tango in seiner zeitgenössischen Variante. Den Geschäftsleuten bieten die musikalischen und tänzerischen Darbietungen vor ihren Schaufenstern einen Imagegewinn. Zum Dank dürfen die Tangofreaks sich von nachmittags bis in den frühen Morgen des nächsten Tages über den ungewöhnlichsten Ballroom des Landes freuen, ohne Beschwerden wegen ungebührlicher Lautstärke fürchten zu müssen. Und weil hier die Hemmschwelle für Neugierige eher niedrig ist, gibt es nachmittäglich Schnupper-Unterricht von renommierten Berliner Tangolehrern. Zur Livemusik am Abend präsentieren Profis aus Berlin und dem Ausland den Tanz in Vollendung.
Das Festival ist auch deshalb etwas Besonderes, weil in den meisten Milongas der Stadt nur klassischer Tango aus der „Epoca d’Oro“ gespielt wird. Zwischen den Zügen geht es modern zu. Vorwiegend jedenfalls. So spielt am Auftaktabend Carlos Libedinsky mit seinem aktuellen Quintett. Er war Mastermind von „Narcotango“, einer Gruppe, die gemeinsam mit „Gotan Project“ die Bewegung des Electrotango anführte. Aber es tritt auch das „Quinteto Angel“ um Christian Gerber (mit einigen Gästen) auf – nicht nur zwei oder drei Sets lang, sondern bis tief in die Nacht, wie in den goldenen Tangozeiten von Buenos Aires. Mehr als 100 Titel umfasst die Setlist. Nur die Jazzband fehlt, die sich einst mit den Orchestas Tipicas abzuwechseln pflegte.
Ich hab’ (siehe oben) keine Ahnung, wie viele TänzerInnen von außerhalb Berlins in den Bahnhof kommen. Aber einen ungefähren Überblick hab’ ich darüber, dass sich hier Aficionadas/os aus den unterschiedlichen Teilen der fragmentierten Tangoszene der Stadt einfinden. Ansatzweise erlebe ich dergleichen auch im Melting Pot „Tangoloft“, das Mona Isabelle gemeinsam mit Henning Klose im Stadtteil Wedding betreibt. Hier sehe ich obendrein immer wieder etliche Menschen, die ich noch nie gesehen habe. Entsprechend groß die stilistische Vielfalt auf der Pista – vom engen Milonguerostil bis zu ausgreifenden Nuevo-Moves. Platz ist ja genug im Bahnhof.
In der Mitte des Erdgeschosses residiert das organisatorische Zentrum der Veranstaltung: Am Rand das DJ-Pult. Daneben eine kleine Bühne für die Bands. Eine flexible schwarze Wand mit Fächern zum Unterbringen von Taschen, Flaschen und anderen Utensilien hegt eine nicht allzu große Tanzfläche ein. Hier gibt es allenfalls Ansätze einer klassischen Tanzordnung. Also nichts für Rondogmatiker! Dennoch hält sich die Zahl der „Unfälle“ in Grenzen. Nicht zuletzt, weil niemand gehindert ist, die Runde zu verlassen und tänzerisches „Windowshopping“ zu betreiben – soweit die Töne tragen. Dies Ausschweifen führt zu meist, aber nicht immer freundlichen Begegnungen mit Menschen außerhalb unserer kleinen Tangowelt. Da nehme ich interessiertes Leuchten in manchen Zuschaueraugen war, aber auch ein verärgertes „Was soll der Quatsch?“ Aus den oberen Geschossen den Bahnhofs blicken die Menschen in aller Regel freundlich auf uns Verrückte herab. So wird der Tango allemal zum Gesprächsthema daheim in der Welt der Nichttänzer.
Ich hab’ nicht gezählt, wie oft ich in den vergangenen Jahren hier gewesen bin. Aber immer noch läuft mir ein leichter Schauer über den Rücken, wenn ich mich – aus den Katakomben der überdimensionierten U-Bahnstation kommend – dem Groundfloor des Bahnhofs nähere. Ich spitze die Ohren, um aus dem nahenden Bahnhofsgemurmel möglichst früh die ersten Tangotöne zu erlauschen. Dann die letzten Schritte… und ich bin drin im Gewusel des Festivals. Das aufhaltsame Ritual der Begrüßungen beginnt. Küsschen rechts, Küsschen links. Jetzt muss ein Platz für Tasche und Straßenschuhe her. Durchatmen. Gemeinsam mit meiner Frau einen Platz zum Tanzen finden. Wir beginnen im Mittelkreis. Ich genieße es, zunächst ins Getümmel einzutauchen. Ein baptistisches Ritual. Danach die Flucht in die Weite des Halblichts der geschlossenen Geschäfte. Einen Weißwein sichern, so lange es noch geht. Muss ich erwähnen, dass Männlein wie Weiblein sich hier nicht scheuen, verbal zum Tanz aufzufordern?
Irgendwann heißt es dann, einen sichtgünstigen Steh- oder Sitzplatz zu finden für die Showacts. Die Mehrzahl der Darbietungen großbenamter Paare aus Buenos Aires in den Milongas find ich eher fad: Edles Gehen auf höchstem Niveau mit ein paar flinken Ganchos für den Beifall. Hier sind wirklich Shows angesagt, nicht bloß aufgebrezelte Lehrvorführungen. Manchmal kommen nicht nur TänzerInnen zum Einsatz, sondern Kehrbesen, Hula-Hoop-Reifen oder riesige Rhönräder. Auch ein Feuerschlucker war schon da. Hier habe ich einige der für mich bis heute eindrücklichsten Showtänze erlebt – dargeboten von Susanne Opitz und Rafael Busch aus Berlin. Tangotanztheater, das mir auch Jahre später noch beim Nachschauen auf Youtube streckenweise den Atem stocken lässt. So intensiv kommt der Trialog der TänzerInnen mit der zeitgenössischen Musik daher.
Einziger Nachteil dieser Veranstaltung für mich und vor allem meine Wirbelsäule: Der Boden. Glatter, harter Stein. Deshalb muss ich stark sein und nicht zu oft schwach werden, weil mich Musik auf die Tanzfläche lockt, die ich im Berliner Tangoalltag so oft so schmerzlich vermisse. Aber auf eine Tanda mag ich auf keinen Fall verzichten – wenn Julia Juliati wieder so freundlich sein sollte, für ein paar Minuten mit meinen verbesserungsbedürftigen Fähigkeiten vorlieb zu nehmen. Die Fotografin, Filmemacherin und Tänzerin kommt Jahr für Jahr aus New York, um das Festival zu dokumentieren. (****) Mit ihrem Dreiklang aus Charme, Höflichkeit und Zuwendung schenkt sie mir auch ohne faustischen Pakt ein Tanzerlebnis, das mich für diesen Augenblick diskret seufzen lässen: „Verweile doch, du bist so schön…“ Thanks Julia, I hope to see you again next year!
(*) Ein Teil dieses Textes ist in der Berliner Zeitung vom 16. 8. 2018 veröffentlicht.
(**) Das komplette Programm: https://www.facebook.com/pg/contemporarytangofestival/events/
(***) Für die Berliner Zeitung habe ich darüber mit dem Initiator Andreas Rochholl gesprochen.https://www.berliner-zeitung.de/kultur/tango-festival-im-hauptbahnhof–die-geraeusche-gehoeren-dazu–24626890
(****) Ich habe hier Videos von Julia Juliati und von Andreas Rochholls Kadmos-Produktion verwendet. Die Sequenz mit Carlos Libedinky und seinem Quartett hab ich im Berliner “Tangoloft” aufgenommen.
5 Comments
Wow und DANKE THOMAS, da triffst du mitten ins Herz dieses wunderbaren Festivals der Vielfalt und leuchtest mit dem erhellenden Schein der Sprache in die dann bisweilen sehr bunten Ecken des grauen Bahnhofsieben! Thanks auch für die schönen beispielhaften Illustrationen durch die Einspielungen. Man sollte den Lesern der um all dies Leben und so manches vertiefende Wort gekürzten Zeitungsfassung unbedingt die lohnende Lektüre deines Blogs empfehlen!
Da ist nix gekürzt in der Berliner Zeitung, lieber Tom Opitz. Ich hab für eine andere Zielgruppe schlicht einen zum Teil anderen Beitrag geschrieben. Aber gegen die Empfehlung meines Blogs hab ich selbstverständlich nichts. Ach, eh ichs vergesse: Vielen Dank fürs Kompliment.
Danke für den wunderbaren Bericht. So konnte ich wenigstens ein bisschen daran teilzunehmen. Ich bin sehr gespannt auf die Weiterführung. Ganz lieben Dank
Danke, lieber Thomas!
Du bereicherst das selbst Erlebte. Mit hintergründigeren und anderen, subjektiven Blickwinkeln, und manche der kleinen Filme leuchten förmlich in ihrem Witz und ihrer Poesie… toll! Das Erlebte kann in uns nachhaltiger nachhallen, schwingen.
Besten Dank für dein Engagement!
Danke für diesen schönen Bericht. Die verlinkten Videos und Deine fröhlichen wie auch tiefsinnigen Ausführungen sind enorm anregend. Schöne Tango-Momente kamen mir in den Sinn und sofort wieder die Sehnsucht weiter zu tanzen. Solche Tango-Anlässe sind auch das reinste “Brainstorming”. Tango im Alltag. Tango nach der Arbeit (witziger Trailer), Tango und die Reise. Die Tänzer und die Zuschauer und hoffentlich der geheime Wunsch vieler, dieses Abenteuer auch zu wagen und einen ersten Tangokurs zu versuchen. Tango als Dialog international. Tango für Verständnis und Frieden. Tango zwischen gestern und morgen. Dialog zwischen Musikern und Tänzern. Tango, das andere Zuhören. Tango, Ort von Melancholie und Glück. Tango und die Umarmung. Tango und gut riechender, sommerlicher Schweiss. Tango, manchmal ganz in der Erde und manchmal in der Luft.
Das Video aus 2009 (Susanne Opitz und Rafael Busch aus Berlin) ist Genuss pur. Die zwei Tänzer und der Cellist schaffen ein unbeschreiblich schönes Ambiente. Sogar die wortlosen Zuschauer sind mit von der Partie, leise und insgeheim Teil dieser Darbietung und ebenso das Donnern eines vorbeifahrenden Zuges, als ob er zur Choreographie gehörte.