Mit deftigem Charme, der mich an die Ruhrpott-Kunstfigur Atze Schröder erinnert, wirbt in diesen Tagen der real existierende Musiker und Tangolehrer Iwan Harlan für das Crowdfunding seines Projekts „Tango Aleman“. Sein Traum: Tango mit deutschen Texten im Mainstream zu verankern. Sein Vorbild: Der früh gestorbene Roger Cicero, dem dies mit seinen Swingballaden gelang. Ob diese Songs Hitpotential haben? So ganz scheint Iwan Harlan ihnen selbst nicht zu trauen. Warum sonst gäbe er seinem deutschen Projekt einen spanischen Namen?(*)
Eins allerdings ist an seiner Marktanalyse mindestens teilweise richtig: In der Tangoszene gibt es durchaus ein Bedürfnis, die Texte zu verstehen, nach deren Klang wir tanzen. Das kommt auch auf Blogs im Internet zum Ausdruck. (**) Allerdings hat sich die Verständnissehnsucht augenscheinlich noch nicht zum Leidensdruck ausgewachsen – so groß, dass rund um die deutschen Tangozentren die Spanischkurse nur so aus dem Boden schössen. Auch mich hat nicht einmal meine Reise nach Buenos Aires im vorigen Herbst dazu gebracht, mein immer wieder geseufztes „Eigentlich müsste man mal…“ in die Tat umzusetzen. Über das Eingeständnis individueller Faulheit hinaus wirft das für mich die Frage nach der generellen Dringlichkeit des Unterfangens auf.
Hier eine unvollständige Zusammenstellung von Quellen für Übersetzungen (I): Ins Deutsche kenn’ ich nicht so viele:
Dieter Reichardt, Tango. Verweigerung und Trauer. Kontexte und Texte. Frankfurt/Main 1984, 450 S. Immer noch d a s deutsche Standardwerk mit zahlreichen Texten und Übersetzungen (und einer Geschichte des Tango.
Ulrike und Eckardt Haerter, Ecken in Buenos Aires, Tangos, Milongas, Valses und Canciones von Homero Manzi, 4. bearbeitete Auflage, Göttingen 2017, 280 S. Die „gesammelten Werke“ eines der größten Tangodichter auf Deutsch.
Raimund Allebrandt, Tango, Das kurze Lied zum langen Abschied, Bad Honnef 2003, 254 S. Das Buch enthält knapp 40 Tangotexte mit deutschen Übersetzungen
Elfriede Bley von der Hamburger Tangoschule Almatango präsentiert auf ihrer Site eine große Auswahl eigener Übersetzungen http://www.almatango.de/tango-argentino-texte-und-taenze/
http://www.tango-rosetta.com. Portal mit Übersetzungen in verschiedene Sprachen, die meisten ins Deutsche. Seit mehreren Jahren nicht mehr aktualisiert, aber immer noch brauchbar.
Seit einiger Zeit gibt es auch eine geschlossene Facebook-Gruppe, die deutsche Übersetzungen sammelt, aber auch an Übersetzungsprojekten teilhaben lässt. Eine tolle Idee, gemanagt erst von Matthias Kroll. Inzwischen hat Paco da Capo übernommen https://www.facebook.com/paco.dacapo. : Tango Texte auf Deutsch . Hier sind auch seltener zu hörende Titel zu finden. Wen’s interessiert: Einfach eine Beitrittsanfrage stellen. https://www.facebook.com/groups/tangotexte/https://www.facebook.com/groups/tangotexte/
Zunächst sind musikinteressierte, aber nicht polyglotte Menschen gewöhnt, sich mit einem ungefähren Verständnis der inhaltlichen Sinnzusammenhänge ihres Hörgenusses zu bescheiden. Der gemeine Bildungsbürger hat dafür seinen Opernführer im Bücherschrank. Manche Opernhäuser bieten den Service mitlaufender Obertitel. Mangels Sprachverständlichkeit der Sänger sind sie oft selbst dann nötig, wenn’s „Rigoletto“ auf Deutsch gibt. Die meisten Pop- und Rockfans sind heutzutage zwar mehr oder minder des Englischen mächtig. Aber wie viel bekommen sie bei einem Konzert oder in einem Club wirklich jenseits der Refrains von den Texten mit?
Spätestens hier taucht die Frage auf: Wie viel Textverständnis ist nötig, um zu „Mein kleiner grüner Kaktus“ einen fröhlich flinken Fox auf’s Parkett zu legen? Ich weiß, diese Frage ist eher rhetorisch und nicht ohne einen Schuss Polemik. Also ernsthafter: Muss ich die Dichtkunst Homero Manzis oder Jose Ferrers in deren Muttersprache vollumfänglich würdigen können und im Lunfardo mindestens halbwegs bewandert sein, um mich zu gesungenen Tangos adäquat zu bewegen? Ich unterstelle mal, dass selbst die älteren Damen, die mir beim Tanzen in Buenos Aires so textsicher ins Ohr gesungen haben, lunfardomäßig nicht 100prozentig sattelfest sind.
Übersetzungen (II): http://www.tangotranslation.com Die wahrscheinlich umfangreichtste Sammlung von Tangotexten und Übersetzungen im Internet. Aktuell fast 1500 Tangos und mehr als 3000 Übersetzungen in 13 verschiedene Sprachen.
https://poesiadegotan.com Ein seit längerem leider inaktiver Blog mit vielen alphabetisch geordneten Übersetzungen des amerikanischen Tänzers und Literaturwissenschaftlers Derrick Del Pilar.
https://letrasdetango.wordpress.com Eine Textsammlung mit englischenÜbersetzungen, begründet von Alberto Paz
http://www.tangodecoder.com Ein Kompendium, begründet von dem leider früh gestorbenen Sammler und Tangohistoriker Michael Krugmann. Außer Texten gibt’s hier viele weitere Funde und Anekdoten.
Ansonsten lässt mich die Lektüre so mancher Übersetungen ziemlich froh sein, die Texte nicht spontan zu verstehen. So kann ich mich auf die Musik konzentrieren. Denn es ist oft ziemlich sentimentaler Stuss, den wir da zu hören bekommen. Nach zahlreichen Stichproben hab ich mir zum Grundsatz meiner Recherchen gemacht: Endet ein Stück auf „corazon“, muss ich den Rest nicht mehr so genau wissen. Die Texte des Tango bewegen sich nämlich meistens eher nicht auf dem Niveau eines Homero Manzi oder Horacio Ferrer. Da ist viel mit larmoyantem Machofrust versetzter Herzschmerzschmalz zu finden. Und das lyrische Ich, in aller Regel männlichen Geschlechts, jammert und schimpft: Warum hat die blöde Schlampe mich verlassen? Daher schützt mein mangelndes Sprachverständnis ein Lied auch vor meinem Hang zu satirischem Unernst. Zum Beispiel „Adios Marinero“: Schön gefühlvoll mit einem Schuss Sentimentalität bis knapp an die Schmerzgrenze. Tango halt. Der Text weist das Lied als Seemannsabschiedsschnulze aus, wie sie auch Freddy Quinn hätte singen können. Dieser Gedanke verführt mich eher zum Feixen als zum gefühlvollen Tanzen. (***)
Aber zurück zum Gesang. Wie wohl die meisten von uns nehme ich die Stimme des (meistens) männlichen Sängers als ein Instrument unter mehreren im Orchesta wahr. Wie die Violinen. Wie das Bandoneon. Im Lauf der Geschichte des klassischen Tango ist sie immer stärker in den Vordergrund getreten. (****) Sie bestimmt im Wortsinne einen großen Teil der Stimmung eines Stück. Im Zusammenspiel mit den anderen Instrumenten setzt sie damit besondere Akzente für meinen Tanz. Aber da führt mich ihr Klang. Das geht mir mit englischen Texten nicht anders, obgleich ich von denen ich einen größeren Anteil spontan verstehe. Wenn ich tanze, bin ich auf Töne gepolt, die direkt zu Herzen gehen, nicht auf intellektuell vermittelten Sinn – oder Unsinn wie bei der grünen Stachelpflanze.
Übersetzungen (III): Mein persönlicher Favorit: Der Youtube-Kanal von Paul Bottomer. https://www.youtube.com/channel/UCpMCDC6_cQ98mHzo-Yk1KUg Eine schier unerschöpfliche Quelle, die nicht nur Texte und meist englische Übersetzungen bietet, sondern die kompletten Stücke mit verschiedenen Versionen sowie Einordnungen und Geschichten dazu. Der englische Profitänzer, Lehrer und DJ hat auf Facebook die Gruppe: Todays tango is… gegründet. . Sie wird auch nach seinem überraschenden Tod fortgeführt. Hier sind Tangos nach Daten geordnet zu finden – entweder mit dem Tag ihrer Aufnahme oder mit Geburts- oder Todesdaten der KünstlerInnen, die als AutorInnen oder MusikerInnen an ihnen beteiligt waren. https://www.facebook.com/groups/627797383984208/
Die Site http://www.tangobythesea.com des amerikanischen DJ Luigi ist nicht ganz so umfangreich. Dafür bietet sie über Texte, Übersetzungen und Geschichten hinaus noch Tanzvideos zu den jeweiligen Titeln.
Selbstverständlich kann das Wissen um den Sinn eines Textes durchaus meine Wahrnehmung der Musik beeinflussen. „Malena“ von Lucio Deare zum Beispiel, zu dem Homero Manzi den Text geschrieben hat, ist eins meiner Lieblingsstücke. In den Milongas hören wir meist die Version von Anibal Troilo mit dem Sänger Francisco Fiorentino. Noch besser gefiel mir die Version des Komponisten mit Juan Carlo Miranda. Ich liiiebe seine leicht metallische Stimme. Doch inzwischen hat die Lektüre des Textes mich etwas ernüchtert. Beide Fassungen sind mir heute zu „schön“ gesungen. Zur Geschichte dieser geplagten Frau, die um ihr gebrochenes Leben singt, scheint mir die weniger schöne, aber umso ausdrucksstärkere Stimme Roberto Goyeneches viel besser zu passen. Da ich kein DJ bin, kann ich meinem Geschmack die wohlfeile Fessel angeblicher „Tanzbarkeit“ ersparen. (*****)
Mit anderen Worten: Auch ich interessiere mich für die Texte. Selbstverständlich. Manchmal hilft mir ihr Verständnis, tiefer in ein Stück einzudringen. Oft aber legt mir der Blick auf eine Übersetzung den Schluss nahe: Da ist nichts, in das es einzutauchen lohnte. It’s just a dance! Ich tanze übrigens gern zum kleinen gründen Blödsinn. Ob mich auch Iwan Harlans neoalemannischer Tangotiefsinn animiert? Die ersten Appetithappen überzeugen mich noch nicht.
Nachtrag:
Nach Abschluss dieses Artikels bin ich auf eine bemerkenswerte Stellungnahme gestoßen. Sie stammt von Carlos Gavito, einem der größten Tangotänzer. Er war in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts Star der Show “Forever Tango”. Er glaubt nicht, “dass es so wichtig ist, die Texte der Tangos zu verstehen”. Als Junge war habe er Bill Haley gehört, erinnert er sich. “Ich verstand damals keine Spur Englisch, aber ich konnte unterscheiden, ob ein Song fröhlich, traurig oder romantisch war”. Im Tango seien die Texte und die Gesangsstimme sehr klar, und man könne hören, ob es um Romantik, Nostalgie oder Traurigkeit geht, sagte er 2001 im Gespräch mit dem New Yorker Magazin “Reportango”. “Man kann es fühlen, auch wenn man den Text nicht versteht.“
Was dies intuitive Verständnis der Stimmung eines Stück für unseren Tanz bedeutet, machte Gavito mit einem Beispiel: “Ich kann nicht verstehen, warum jemand, der etwa zur Musik von Miguel Calo tanzt, einen Gancho führt, wenn es in dem Stück um Liebe geht. Ein Gancho ist aggressiv. Warum sollte die Frau in diese Aggression einwilligen, wo es in der Musik doch um Liebe geht?” (******)
(*) https://www.startnext.com/tangoaleman
(**) https://berlintangovibes.com/2018/06/05/ich-hoere-was-du-singst-aber-ich-verstehe-es-nicht/ Gerhard Riedl bietet in seinem Blog http://milongafuehrer.blogspot.com gelegentlich Übersetzungen.
(***) https://youtu.be/qOzR_zmCHB8 , https://lyricstranslate.com/en/adios-marinero-goodbye-sailor.html
(****) http://www.todotango.com/english/history/chronicle/70/The-tango-singer:-His-evolution-along-time-The-orchestra-singer/ ; http://jens-ingo.all2all.org/archives/1607
(*****) Text: https://poesiadegotan.com/2009/04/07/malena-1941/ Troilo/Fiorentino https://youtu.be/emu1PYcNk1w, Demare/Miranda https://youtu.be/VbWcgUbgJy8; Goyeneche/Marconi https://youtu.be/fmeDBtx-pOA oder mit Garello https://youtu.be/KV6l8g3H4e4
(******) Carlos Gavito, zit .nach: Paul Pellicoro on Tango, New York, 2002, S. 114 Er steht damit nicht allein unter den großen Tangotänzern. Klaus Wendel zitiert in seinem Kommentar zu diesem Artikel Eduard Arquimbau mit den Worten: “Wir tanzen nicht die Texte, sondern die Melodie!”
16 Comments
DANKE für diese hilfreich gut kommentierte Zusammenstellung von Quellen für die literarische Seite des Tango. Auch mir geht es als Tänzer so, dass ich mich für die Stimmen vor allem vor allem in ihrer Eigenschaft als ausdrucksstarkes melodisches Instrument interessiere. Und auch wenn ich Spanisch quatschen kann, bleiben mir die Texte hintergründiger Schall und Rauch, aus dem einzelne Wörterfolgen hier und da verständlich aufblitzen und dann aber als kurz und bunt erkannt im musikalischen Fluss verglühen wie die Sylvesterraketen am Himmel über Berlin. Für alle, die tiefer baden wollen in den Texten zwischen Kunst und Kitsch hast du hier hilfreiche Quellen geliefert. Dem ‘deutschen Tango’ (Tangeh ???😉😂🤣) mit alemannischen Etikett unseres hoch geschätzten Iwan wünsche ich eine eigenständig vertiefende, Charakter gerierende Weiterentwicklung und viel Erfolg auf dem eigenen Pfad!
Aber eines bleibt für mich klar:
Mir geht es in erster Linie ums Tanzen des Gefühls, das die Musik transportiert und nicht so sehr um die Einzelheiten seiner Entstehung!
PS. War das ein Freud’scher Verschreiber, dem so schön herzigen ‘corazon’ ein doch etwas ranziges “n” einzufügen, damit deutlich wird, wie sehr dick aufgetragen da oft der Kitsch trieft, wenn man die Originale lesen kann?
Danke für den Hinweis auf meine zu Herzen gehende Schlampigkeit, lieber Tom. Ausführlichere Antwort folgt.
Wunderschöne deutsche Übersetzungen etlicher argentinischer Tangos hat Elfriede Bley auf ihrer Internetseite http://www.almatango.de/tango-argentino-texte-und-taenze/
Vielen Dank für den Hinweis, liebe Regina. Ich habe den Link sofort in meine Liste aufgenommen. Genauso würde ich übrigens mit weiteren Tipps verfahren.
Guter Artikel!
Der Textautor, den du meinst, heißt aber Horacio Ferrer. Unter “José Ferrer” firmieren diverse Musiker und Schauspieler.
Danke lieber Gerhard Riedl, ich hab mich als Blogger immer noch nicht dran gewöhnt, dass ich keinen Redakteur mehr habe, der mich korrigiert. Meine Namensschlamperei war legendär im Kreis meiner Kollegen.
Auch ich hoffe, daß weiterhin deutschsprachige Lieder (Tango oder non, egal) eine Seltenheit auf Milongas bleiben. Die Stimme ist ein wichtiger Teil des Klang-Angebots, aus dem ich als Tänzer auswählen kann; Instrumentals finde ich in zu hoher Dichte langweilig. Der Textkanal ist aber viel zu dominant. Irgendwie kann zumindest ich Muttersprache nicht so ausblenden, so wie es mir selbst bei Englisch gelingt, bei dem ich in aller Unbescheidenheit ziemlich gut bin. Von daher bin ich fürs Spanische sehr dankbar. Offensichtlich ist das in Argentinien anders gelaufen, aber ehrlich gesagt ist mir das egal.
Manchmal denke ich auch, was singt er/sie wohl ? Aber wenn ich den Text in der Übersetzung lese, bin ich oft enttäuscht..Als Liebhaber von Non Tango Tänzen würde ich gern etliche deutsche Texte nicht verstehen (wenn wir uns jetzt auflösen sind wir mehr als wir jemals waren z.B.😉)
Hallo Thomas, danke auch für Hinweise und die Links. Allerdings finde ich Deine Assoziation Iwan Harlan > Atze Schröder weit hergeholt. Iwan ist zwar ein sehr direkter aber auch feinsinniger Mensch, und vom Ruhrpott-Slang und von den Plattitüden dieses Möchtegern-Komikers weit entfernt. Ich möchte Dir aber nicht unterstellen, dass Du damit eine Ähnlichkeit meintest, sondern dass Du Dich an A.S. erinnert fühlst. Obwohl auch ich mit dem Musikstil Iwans hadere, hat er zumindest mit dem Versuch, die musikalische Einöde sich nicht weiterentwickelnder Tangomusik zu durchbrechen und mit deutschen Texten eine Verbindung zur Musik herzustellen, mehr Respekt verdient.
Dein Artikel greift aber auch ein Thema auf, dass mich durch Diskussionen und Statements diverser argentinischer Tänzer, Sänger (z.B. Jorge Aravena, in Berlin) schon sehr beschäftigt hat. So frage ich z.B. ob sich durch das Verständnis der gesungenen Texte irgendein äußerlich erkennbarer Unterschied in der getanzten Interpretation feststellen lässt. Und da sage ich nach langwieriger Beschäftigung mit diesem Thema eindeutig: NEIN.
Mag sein, dass sich ein argentinischer Tänzer durch Wiedererkennung und Möglichkeit, den Text mitsingen zu können, an seine Heimat, an seine Zugehörigkeit zur Kultur erinnert fühlt. Aber ich bestreite, dass sich ein Text und darin besungene Gefühle tänzerisch interpretieren lassen; vielleicht mag das pantomimisch gelingen, aber nicht mit allgemeinen Stilmitteln des Tangos.
Jorge Aravena z. B. behauptet in dem Berliner Film “Tango Pasión”, dass ein gefühlvolles Tanzen ohne die Kenntnis und ein inneres Verständnis der Texte überhaupt nicht möglich sei. Doch möchte ich ihn mal fragen, was denn nun argentinische Tänzer anders machen? Wie zum Beispiel interpretieren sie die tänzerisch die Phrase “Se van, se van… Las casas viejas queridas. De más están…Han terminado sus vidas.” (Übersetzung: “Sie geh’n dahin, die alten geliebten Häuser, überflüssig geworden, ist ihr Leben jetzt vorbei“) ? – Traurig, mit hängenden Schultern? Wie steht es mit der Aufmerksamkeit als Tänzer, zur Partnerin, zur Melodie, zu anderen Paaren auf der Piste? Wie soll das gehen, dass ich mich beim Tanzen obendrein auf die Worte konzentrieren soll, die teilweise poetisch-sinnlich eine metaphorische Verklärung einer Stimmung beschreiben? Soll ich die Texte vorher auswendig lernen, um im richtigen Moment ein trauriges Gesicht zu bekommen? Oder ist es so gemeint, dass man sich auf der Piste beim Tango “Cambalache” wie eine Rampensau aufführen darf, weil der Text es impliziert: “es ist ja sowieso alles egal, ob ich nun remple oder umsichtig bin“?
Ich muß leider die schon in der Fragestellung erkennbare Voreingenommenheit zugeben. Habe ich vielleicht alles falsch verstanden? Man möge es mir erklären. Oder ist vielleicht nur damit gemeint, dass ich mich in einer Gesangsphase eines Tangos tänzerisch zurückhalten sollte, um so die Achtung vor dem Gesang zu demonstrieren?
Anderseits geht es auch mir wie Dir, Thomas, dass ich die Texte lieber nicht in verständlicher Landessprache hören möchte, da geht es mir “lieber in Spanisch als in Deutsch!” Da klinkt selbst die größte Banalität eindeutig besser.
Dagegen hat mich ein Zitat von Eduard Arquimbau, einem bedeutenden Tänzer, sehr beruhigt: “Wir tanzen nicht die Texte, sondern die Melodie!”
Ich freue mich, einmal halbwegs im Mainstream zu schwimmen: Auch andere Menschen finden ein allzu direktes Textverständnis eher störend als hilfreich. Bei Stücken, die ich schätze, weiß ich allerdings gern, worum es geht. Deshalb nutze ich die von mir gsammelten Übersetzungslinks durchaus öfter. Vielen Dank für das schöne Zitat des Native-Speakers Eduard Arquimbau, lieber Klaus Wendel: “Wir tanzen nicht die Texte, sondern die Melodie!” So, und nun zur Causa Harlan. Ich hab Stücke aus seiner Produktion schon vor und eineinhalb Jahren gehört. Ob’s das nun in die Finanzierungsphase getretene Projekt war, weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur verschwommen, dass die Musik mich nicht beeindruckt hat, ich die Texte aber eher nervig fand. Wie gesagt: Geschmacksache. Ich bin übrigens auch am Niederrhein aufgewachsen – und fand mich nicht sooo weit vom Ruhrgebiet. Was mich zu meinem Atze-Schröder-ergleich gebracht hat, war Iwans Werbung mit Making-of-Schnipseln, die ich ziemlich aufdringlich und nervig fand. Eine Zeit lang kam sie täglich auf Facebook. Seit Beginn der Crowdfundings, ist – jedenfalls, was ich so sehe – plötzlich Sendepause. Vielleicht hat er ja selbst gemerkt, dass es ein bisschen dicke war. By the way: Falls du meinen Blog lesen solltest, lieber Iwan Harlan (https://www.startnext.com/tangoaleman) , ich räume Dir gern einen – selbstverständlich unzensierten – Gastbeitrag zur Vorstellung deines Projekts ein.
Ich stimme Gavito zu das ein Gancho nicht zu romantischer Liebe passt. Aber das Gefühl trügt mich zumindest beim Tango öfter. ein Beispiel: La Bruja. Seid ich den Text kenne, tanze ich es völlig anders, und zwar mit jeder Menge Ganchos und Aggressivität. Vorher war as Lied für mich positiv verspielt. Aber seid ich weiß das es sich um eine Abrechnung mit der ehemaligen großen Liebe handelt, die wirklich nicht freundlich vorgetragen wird, hat sich das geändert. Gavito hat natürlich völlig Recht, das man zu einem Grundgefühl tanzt, das sich aus Melodie undRhythmus ergibt. Für mich aber eben auch durch den Text, wenn der auch nicht immer sooo wichtig ist. Und das wunderbar paradoxe im Tango ist, dass der Text oft konträr zum offensichtlichen Musikgefühl ist. Das macht es für mich spannend.
Ich denke es geht fast jedem so, wenn er beginnt intensiver in die Welt des Tango Argentino einzudringen, um vielleicht sogar eines Tages darin zu versinken, dass man sich fragt, was wird da eigentlich gesungen, was man bislang bestenfalls mitgesummt oder mitgemurmelt hat. Und ebenso ist es mir ergangen. Als ich begann, mich mit den Texten zu befassen, war ich zunächst erstaunt, festzustellen, dass oftmals der eigentliche Text zu den Tangoliedern viel länger ist, als das, was in den gespielten Stücken gesungen wird, oftrmals ist es nur ein Bruchstück (z.B. El adios, Milagro, Golondrinas). Ja, dass sogar mehrstrophige Texte zu Tangos existieren, die man überhaupt nur ohne Gesang kennt.
Damit bleibt uns spanisch-unkundigen Banausen der textliche Hintergrund und damit ein beträchtlicher Teil der Magie des Tango Argentino verborgen.
Ich will damit sagen, dass es, abgesehen von reinen sprachlichen Defiziten den geringen gesungenen Teil überhaupt zu verstehen, es für uns argentinien-ferne Tangotänzer gar nicht möglich ist, die Stücke des Tango Argention in Gänze zu erfassen und dementsprechend zu interpretieren. Da kommt es dann schon vor, um mit Gavito zu zitieren, dass wir Tangueros einen Gancho an genau der falschen Stelle einsetzen wollen. Das Ergebnis habe ich mehrfach bei meinen Besuchen in den Milongas von Buenos Aires erfahren müssen, dass mir die Tanguera während des Tanzes zuzischelt… hör auf den Text, achte auf die Melodie… oder, was noch drasttischer war ….so kann ich nicht tanzen…, so dass ich nach der Tanda deprimiert von der Tanzfläche schlich. Die argentinischen Tangueras erwarten einfach, dass man den Tango text- und melodiekonform tanzt, wozu wir Europäer kaum in der Lage sein können. Dann versteht man letztlich auch nach Buenos Aires Besuchen die Bemerkung, tanzt in Europa gern wie und was Ihr wollt, aber nennt es nicht Tango Argentino. JK
Sehr empfehlenswert in diesem Zusammenhang: Raimund Allebrand “Tango – Nostalgie und Abschied, Psychologie des Tango Argentino”, Horlemann Verlag, 1998
Vielen Dank für deinen Hinweis, lieber Jochen Lüders. Du hast mich zu einem Griff ins Bücherregal animiert. Den Allebrand hatte ich in der Tat vergessen. Hab ihn gleich in die Liste aufgenommen.
Ein weiterer spannender Text. Gerne möchte ich auch noch etwas verspätet meinen Senf dazu geben.
Vorneweg, ich bin zweisprachig aufgewachsen mit Italienisch und Deutsch (bzw. mit einem Ostschweizer Dialekt :-). Seit gut fünf Jahren beschäftige ich mich intensiv und ernsthaft mit dem Sprachduktus von lateinischen Sprachen und Deutsch. Davor hörte ich mir gegen die 100’000 verschiedene Stücke an (Kategorie: Vinyl-Sammler). Französisch und Englisch lernte ich in der Schule, Spanisch (=Kastilianisch) belegte ich aus Spass vor 29 Jahren drei Semester lang aus Spass an einem Abendkurs. Leider vergass ich in der Zwischenzeit sehr viel. Aber bereits steht die fünfte Reise nach Argentinien an und das eine oder andere frischt sich wieder auf.
Ich erwähne dies, weil ich mir aufgefallen ist, dass man bestimmte Dinge auf deutsch fast nicht aussprechen kann, die auf italienisch, französisch oder spanisch wunderbar klingen – und umgekehrt.
Es ergeht mir wie Thomas, dass ich ob zuviel Corazon und Pecho, sangre de mi sangre und dergleichen schmunzeln muss. Andererseits glaube ich zu spüren, dass wir uns sprachlich in “metaphorische Räume” bewegen. Ich glaube Klaus Wendel deutet dies auch an.
Unlängst begann ich ein paar Stücke zusammen zu stellen, die ein ganz bestimmtes Thema, nämlich die Emigration von Europa nach Argentinien berühren. Und mit über 50 denke ich nach über meinen Grossvater (mütterlicherseits) der Ende des 19. Jh. in Buenos Aires geboren ist. Er reiste als ganz junger Mann nach Italien, musste sogar in den Wehrdienst (1. Weltkrieg), gründete eine Familie und starb bei einem Berufsunfall als meine Mutter kaum geboren war. Plötzlich ahne ich Fäden oder ich bilde es mir einfach nur ein.
Die Porteños sprchen ein stark Italienisch angehauchtes Spanisch, z.B. “retornar” anstelle des richtigen “volver” (wie in Gardels Lied). Nun ergeht es mir wie Thomas mit dem “…ich sollte mal wieder!”, was ich aber vor mir herschiebe und sogar sogar mit dem Russischen liebäugle, seit ich ein Festival in Moskau besucht habe… 🙂
Was ist wichtig für eine schöne Interpretation?
Die Musik
Für mich ist es auch die Musik und das Arrangement. Ich machte selber Musik, improvisierte und stand auf Bühnen. Und ja….ich verdrehe zuweilen auch die Augen, wenn bestimmte Männer beim traumschönen “Organito de la tarde” in der Version von Di Sarli oder in der expressiv-traurigen Versio von “Malena” mit Goyeneche, die Dame nötigen gefühlte fünfzehn Ganchos und achtzehn Boleos zu exerzieren. Mir tut das fast schon physisch weh. Bei D’Arienzo kann man Gas geben…usw. Es gibt unzählige Weisen, wie man die Musik interpretiert.
Der Text.
Ich verstehe leider auch zu wenig. Wie Thomas recherchiere ich aud die Texte bei meinen “Lieblingsstücken” oder meinen “Neuentdeckungen”, die mich neugierig machen. Ich denke das Verständnis zur Geschichte, nicht von einzelnen Zeilen, kann der Interpretation durchaus einen Spin geben, ohne dass man sich davon abhängig machen soll.
Die Zwischenzeilen.
Hier komme ich auf meine einleitenden Sätze zurück. Just biem Tanz arbeitet nicht nur unsere “analytische, linke Hirnhälfte”, sondern auch die “intuitive, kreative, rechte Hälfte”. D.h. dass ich beim x-ten Herz-schmerz-song durchaus auch eine versteckte Geschichte höre (oder zu hören glaube). Das kann die Geschichte des Immigranten sein, der seine gesamte Familie, seine Freunde, sein Dorf nie mehr sehen wird (Ende des 19. oder Anfang des 20. Jh. ein Faktum). Manchmal berührt die Liebesgeschichte auch nur existentielle Fragen. Manchmal auch die politische oder sogar die wirtschaftliche Situation.
Der in Italien (Verona) gebürtige Alberto Marino transportiert häufig dieses Heimweh vom ausgewanderten Italiener. “La Cantina” – ein kleines Stück Italien, weit weg in einem fremden Land.
https://www.youtube.com/watch?v=ULeuIRAeIeI
In Zeiten von Emmigration und Immigration, von sozialen Zwängen, das Land zu verlassen, von Entwurzelung oder weit weg reisen zu müssen (Richard Sennett: Der flexible Mensch) ist das Thema nicht ganz inaktuell. Gewiss ist der Mensch anpassungsfähig, aber nicht beliebig.
Des Weiteren ist sogar die Reise auch wieder eine Metapher für eine innere Veränderung…. man könnte hier sehr weit spinnen.
Wer gerne Blues, RnB etc. hört, kennt bestimmt auch dort diese Codices. Man glaubt zuweilen, jeder zweite Blues beginnt mit: “Woke up this morning, my gal was gone,….whisky und das Übliche”. Dahinter stecken aber ganz andere Themen, oft unauffällig angedeutet, z.B. die soziale Ungleichheit für Schwarze in den USA aber auch Existentielles.
Im Laufe der Jahre – und das ist längst kein Muss – verfeinert sich unser Gehör und Verständnis, sei es durch so schöne Blogs wie hier, durch Nachlesen, durch ein nettes Gespräch etc. und kann ohne grosses Spanischstudium uns wertvolle Inputs geben.
Und manchmal sind auch Tangos ganz heiter und transportieren eine wunderschöne Botschaft, der ich nur voll und ganz zustimmen kann. Da kann man nicht auf dem Parkett rumschleichen. Da ist etwas Pfeffer angesagt.
https://www.youtube.com/watch?v=ft4OC_3CLuI
Nachtrag:
Ich finde es schön, dass heute auch wieder Künstler den Tango in anderen Sprachen zu interpretieren versuchen. In den 30er Jahren war Tango auch weltweit beliebt. Viele Autoren schreiben Deutsche, Italienische, Französische, Türkische, Russische Tangos und in etlichen weiteren Sprachen.
Ich glaube, dass dies das schönste Geschenk ist an die grossen Pioniere der Tango-musik und an Buenos Aires und Montevideo.