Die „Tangodanza“ ist eine Institution. Hinreißend altmodisch. Analog. Ihre Texte gibt es (mit wenigen Ausnahmen) nur auf Papier. „Totholz“, wie es unter Digitalistas heißt. Die Redaktion des nun bald 20 Jahre alte Blattes hat nie den Fehler der Zeitungsverleger gemacht, Inhalte umsonst herzugeben, die sie verkaufen möchte. Die einzige Möglichkeit, es kostenlos zu lesen, ist, in eins der Exemplare hineinzuschauen, die in den meisten deutschen Tanzschulen aus-, oder sein wir ehrlich: herumliegen. Unter denen, die sie kennen, kenne ich niemanden, der/die sich noch nicht über sie geärgert hätte. Auch das gehört zu einer Institution.
Um bei dem Zeitungsvergleich zu bleiben: Die „Tangodanza“ ist für die Tangoszene ein „Generalanzeiger“ – jene Art von Regionalzeitungen, die sich (partei)politisch nicht oder kaum festlegen, weil sie möglichst viele LeserInnen in ihrem Verbreitungsgebiet ansprechen wollen. Wenn’s gut geht, stellen sie zuverlässige Informationsquellen dar – einschließlich eines um Vollzähligkeit bemühten Veranstaltungskalenders. Nicht zu vergessen: Nachrichten aus demVereinsleben. Dafür zahlen sie häufig den Preis einer gewissen Langeweile, Schwerfälligkeit oder Beliebigkeit.
Ich weiß nicht, wie repräsentativ die „Tangodanza“ für das ist, was unter deutschen TangotänerInnen geschieht und gedacht wird. Ich nehme aber ihr Bemühen wahr, auf den Höhe der Zeit zu bleiben. Dazu gehört die Veränderung der Titelbilder, die stets ein selbstverständlich attraktives Profitanzpaaar zeigen. Inzwischen ist die klischeehafte Tango-„Errrotik“ der Darstellung gut gelaunt tanzender Menschen gewichen.
Am interessantesten finde ich die „Tangodanza“ allerdings immer dann, wenn sie die Grenzen des Mainstream austestet. Das geht mir bei Zeitungen nicht anders. Deshalb ist für mich das wichtigste Stück in der neuen Ausgabe die erste Folge eines zweiteiligen Artikels über Astor Piazzolla. Gleich im Editorial wird er als „der bedeutendste Tangomusiker aller Zeiten“ bezeichnet. (**) Ich hoffe, dass der/die ein oder andere LeserIn neugierig wird und den Text als Anleitung zum Hören versteht. Auf Youtube und in den einschlägigen Streamingdiensten gibt es Material zuhauf. Zum Glück gehören APs Kompositionen inzwischen auch zum Repertoire vieler Tangogruppen, die in unseren Milongas zum Tanz spielen.
Über einen internationalen Renner der Live-Szene hat die Frankfurter DJane und Tangopublizistin Karin Betz geschrieben. Sie stellt das „Orquesta Roma´ntica Milonguera“ und seine verschiedenen Variationen vor. Diese argentinische Coverband ist deshalb so besonders, weil ihr Sound aus der Goldenen Epoche hinaus in die 50er und 60er Jahre führt – und die Musiker nie vergessen, ihren schwelgerisch vorgetragenen Shmaltz mit einem Augenzwinkern zu präsentieren. Das gilt auch für die prononciert errrotische Sängerin Marisol Martinez, die in den Videos der Truppe mit (angeblichen oder tatsächlichen) Originalkleidern von Evita Peron kokettiert, der charismatischen Frau des autoritär-populistischen Tangoförderers Juan Peron.
Eine höchst nützliche (und unterhaltsame) Neuerung sind seit einigen Ausgaben die Portaits großer Tangomusiker von Olli Eyding. Der Münchener DJ ist nicht weniger zuverlässig, schreibt aber etwa systematischer als der britische Tango-Guru Michael Lavocah. Diesmal geht es um meinen aktuellen(***) EdO-Favoriten Osvaldo Fresedo. Zum Format gehört stets die exemplarische Vorstellung eines besonderen Titels. Hier: „El Once“.https://youtu.be/r2lLEFxZM3g
Der vierte aus meiner Sicht herausragendeText stammt von Johann Gmelch. Er schildert seine Erfahrungen als Mann, der seit einger Zeit „auf Milongas unterwegs“ ist (****). Danach ist der vielbejubelte Cabeceo in unseren Breiten keineswegs immer jenes ideale Tanzanbahnungsinstrument, als das er von vielen gepriesen wird. Manche Leserin mag bei dem ein oder anderen Tip, den er Ihresgleichen für die Milonga gibt, eine Augenbrauen hochziehen. Wichtiger finde ich, dass er keine „Körbe“ gibt und gern mit „Fremden“ tanzt. Meine beiden Lieblingssätze: „Der Tanz mit so mancher Anfängerin fühlte sich besser an als mit einer (technisch sehr gut tanzenden) erfahrenen Tänzerin. Außerdem waren die meisten Tänze mit unbekannten Tangueras von ‘auswärts’ traumhaft.“
Die Redaktion hat immer wieder ein gutes Händchen für Beiträge aus ihrer Leserschaft, die nicht zu jener Elite zählt, die normalerweise den Diskurs über Tango (inzwischen vor allem in den sozialen Netzwerken) dominiert. Sie macht auf diese Weise exemplarisch szene-öffentlich, was am Rande der Tanzflächen privat diskutiert wird. Der berühmteste Text dieses Genres stammt von Annette Postel, die vor Jahren forderte: „Stoppt die Tango-Taliban“. (*****) Die Künstlerin wandte sich gegen das (inzwischen nicht gerade kleiner gewordene) Übergewicht der Musik aus der Epoca d’ Oro in unseren Milongas. Bis heute können sich Menschen, die damals gemeint waren oder solidarisch gemeint fühlten, herrlich über diese maßlose Polemik echauffieren. Aber so ein Kracher kann nicht immer gelingen und würde bei all zu häufiger Wiederholung wohl die Existenz einer so kleinen Zeitschrift gefährden.
(*) Ich strebe hier keine umfassende Rezension an, sondern weise höcht subjektiv auf Artikel und Entwicklungen in der Zeitschrift hin, die mir wichtig erscheinen.
(**) Ich erinnere mich noch gut daran, dass es vor ein paar Jahren nicht ganz einfach war, die Redaktion für meinen Artikel zu begeistern, der dafür plädierte, Piazzolla in den Milöngas zu spielen: „Verachtet mir den Astor nicht!“ (Tangodanza 4/2014)
(***) Das ändert sich zwar in unregelmäßigen Abständen. Aber die vier Titel, die er gemeinsam mit dem Jazz-Trompeter Dizzy Gillespie, aufgenommen hat, werden so schnell nicht von meiner persönlichen Hitliste verschwinden.
(****) Es handelt sich um die Antwort auf einen Beitrag von Anita Gerstmeier in der Tangodanza 1/2018, „Weiblich und alleine – Von der Lust, unbegleitet tanzen zu gehen“.
(*****) Tangodanza 2/2013